Als der Krieg begann, arbeitete die 33-jährige Natalia Otrischtschenko in der westukrainischen Stadt Lwiw am Zentrum für urbane Geschichte. Als Erstes packten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen praktisch an – als freiwillige Helfer.
Doch dann sagten sie sich, dass sie als Soziologen und Historiker etwas Sinnvolleres tun müssten: Sie müssten versuchen, diesen entscheidenden Moment in der Geschichte der Ukraine zu dokumentieren.
Stundenlange Gespräche
So begannen sie, mit Bürgerinnen und Bürgern strukturierte Gespräche zu führen. Oft stundenlang, manchmal über Tage verteilt und fast immer von Angesicht zu Angesicht. Für Otrischtschenko stand fest, das verantwortungsbewusst, fair und ethisch korrekt zu tun.
«Wir verstehen uns nicht als Psychotherapeuten, nicht als Ermittler für ein Tribunal. Deshalb fokussieren wir nicht auf Traumata, nicht auf Gefühle, sondern auf Schilderungen von Sachverhalten und Erlebnissen», sagt sie, die inzwischen an der Columbia-Universität in New York forscht.
Den Boden unter den Füssen weggezogen
Bei den Befragungen wurde deutlich, wie enorm viel dieser Krieg verändert. Zum Beispiel das Zeitgefühl. Für viele fror die Zeit an jenem 24. Februar 2022 ein. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern verloren Haus oder Wohnung, mussten fliehen, erleben den Verlust von Freunden, Familienangehörigen, ihrer Arbeitsstelle.
Plötzlich stellen die Menschen fest, wie wertvoll das ist, was man als selbstverständlich betrachtet.
«Plötzlich stellten sie fest, wie wertvoll das ist, was die meisten als selbstverständlich betrachten», sagt Otrischtschenko. Die einen reagierten darauf, indem sie zupackten, andere verkrochen sich in sich selber.
Doch mehrheitlich stellte sie in all den Gesprächen ein verstärktes Solidaritätsgefühl fest. Viele knüpften neue Netzwerke mit Menschen, die sie zuvor gar nicht oder kaum kannten. Offen sei, wie lange diese neue Solidarität anhalte, bevor Brüche sichtbar würden, sagt die Soziologin.
Unterstützung für Präsident Selenski
Gewachsen sei auch das zuvor geringe Vertrauen in die Regierung: «In einer derart bedrohlichen Kriegssituation hat man keine andere Wahl, als der Regierung zu vertrauen», sagt Otrischtschenko. Das gelte auch für die Unterstützung für Präsident Wolodimir Selenski – vor allem, weil sich dieser entschlossen habe, im Land zu bleiben.
Das Grundvertrauen der Menschen wurde erschüttert. Kein Lebensplan ist mehr fix.
Gemeinhin geht man davon aus, dass ein brutaler Krieg eine Gesellschaft insgesamt brutalisiere. Das hingegen stellte Natalia Otrischtschenko bisher nicht fest. Weder nehme die häusliche Gewalt, noch die Strassengewalt zu, ebenso wenig die Kriminalität insgesamt.
Grosses Informationsbedürfnis
Deutlich gewachsen sei das Interesse an Informationen. Auf einmal seien sie überlebenswichtig. Damit meint sie indes in erster Linie soziale Medien. Die Leute stützten sich für die Primärinformation massgeblich auf diese. Dennoch seien die klassischen Medien weiter wichtig, nicht für die Nachrichtenvermittlung, doch wenn es ums Erklären, ums Einordnen gehe.
Der entscheidende Punkt aber sei, die junge Soziologin: «Das Grundvertrauen der Menschen wurde erschüttert. Niemand fühlt sich mehr wirklich sicher. Kein Lebensplan ist mehr fix.» Auch ihr eigener nicht.