Negin Winkler sagt, sie sei ein introvertierter Mensch: «Ich bin Wissenschaftlerin mit der Persönlichkeit einer Wissenschaftlerin.» Winkler arbeitet am Universitätsspital Basel in der Krebsforschung.
Nun aber spricht sie an Demonstrationen, ist mit dem Megafon unterwegs und organisiert Menschenketten. Negin Winkler ist im Iran geboren und aufgewachsen. Seit einigen Jahren lebt sie in der Schweiz.
Die revolutionären Ereignisse im Iran haben sie aufgerüttelt. Und sie war irritiert. «Im Iran passiert etwas Historisches. Politik und Medien aber handelten das Thema in den ersten Wochen als Randnotiz ab.»
Der Westen schaut weg
Diese Diskrepanz frustrierte viele in der Diaspora. «Ich konnte nicht mehr still zu Hause sitzen», so Winkler. Zusammen mit einigen anderen beschliesst sie, in Basel kleine Gedenkstätten für Mahsa Amini einzurichten: Blumen, Kerzen, Fotos von Mahsa Amini.
Mahsa Amini ist jene junge Frau, die am 16. September im Iran von der Sittenpolizei festgenommen wurde. Amini hatte ihr Kopftuch angeblich nicht vorschriftsgemäss getragen. Sie starb in Haft.
Offenbar erlitt die junge Iranerin durch Polizeibrutalität ein Schädel-Hirntrauma. Ihr Tod war der Auslöser der revolutionären Proteste.
«Ich ging jeden Tag zur Gedenkstätte und sprach mit Leuten über die Ereignisse im Iran», erinnert sich Negin Winkler. Auch das Regionaljournal Basel wird auf die junge Frau aufmerksam, fragt für ein Interview an.
Sie weiss, dass es vom Regime registriert wird, wenn sie sich öffentlich äussert. Das bedeutet, dass sie nicht mehr in den Iran reisen kann: «Ich käme direkt ins Gefängnis. Vielleicht sehe ich meine Familie nie wieder. Aber wenn ich den Mut der Iraner und Iranerinnen sehe, die mit ihrem Leben bezahlen, gibt mir das auch Mut.»
Die Angst schwindet
In der Schweiz leben ca. 6500 Menschen mit iranischem Pass. Das sei aber nicht die ganze iranische Diaspora. «Ich bin Schweizer und iranisch-stämmig, tauche aber nicht in der Statistik auf. Menschen wie mich gibt es viele», sagt Kijan Espahangizi, Historiker und Iran-Kenner.
Bisher gab es in der Schweiz keine iranische Community, also eine Gemeinschaft, die sich zusammen für etwas einsetzt. «Das ändert sich gerade. Die Menschen verlieren die Angst und sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen.»
Hoffen und Bangen
Denn für alle, die sich öffentlich äussern, sei klar, dass sie unter dem aktuellen Regime nie mehr in den Iran zurückkehren können. «Wir werden in der Schweiz bedroht und überwacht, auch als Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Verständlicherweise haben viele in der Diaspora bisher geschwiegen.»
Jetzt nicht mehr. Viele Schweiz-Iranerinnen und -Iraner setzen sich seit Wochen unermüdlich ein – auch gegen die eigene Ohnmacht.
«Es ist schwierig, weit weg zu sein, wenn in der alten Heimat etwas Historisches passiert. Es ist ein permanentes Hoffen und Bangen», sagt Negin Winkler.
Die Macht der Diaspora
Aber was nützt das Engagement aus der Diaspora den Menschen im Iran? Kijan Espahangizi sagt, was diese Proteste einzigartig mache, sei, dass sie von einer globalen Diaspora mitgetragen würden. Ein Zehntel aller Iranerinnen und Iraner lebt im Ausland.
«Eine Diaspora, die paradoxerweise von jener Islamischen Republik produziert worden ist», so der Historiker. «Menschen, die vor 40 Jahren das Land verlassen haben und Kinder und Enkelkinder bekommen haben.»
Der Iran geht uns alle an.
Diese zweite und dritte Generation sei stark genug in der Gesellschaft angekommen, um ihre Stimme hörbar machen zu können. «Viele sind Anwältinnen, Kunstschaffende, Journalisten. Sie konnten die Frage der Proteste im Iran auf die Agenda setzen. Denn von allein ist das Thema nicht in die Medien und die Politik gekommen.»
Solidarität bisher gering
Espahangizi weist auf Kanada hin. Nicht zufälligerweise habe das Land harte Sanktionen ergriffen: «In Kanada gab es neben Berlin die grösste Solidaritäts-Demo. Es sind Menschen mit Gewicht, die sich einsetzen.»
Auch Kijan Espahangizi ist Teil dieser engagierten Diaspora und konsterniert darüber, dass die Solidarität mit dem Iran eher gering sei. «Sie wird grösser, aber wir fragen uns schon, wo denn all die Leute sind, die sich für Black Lives Matter eingesetzt haben? Die am Frauenstreik waren? Es geht um Frauen, es geht um Freiheit. Der Iran geht uns alle an.»
Espahangizi plädiert für einen Perspektivenwechsel. Anstatt empathisch mit den Menschen im Iran mitzuleiden und sie für ihren Mut zu bewundern, sei es wichtig, dass der Westen verstehe, wie wichtig der Iran als geopolitischer Akteur sei: «Der Iran ist eine expansive Diktatur. Deren Einfluss geht über die Landesgrenzen hinaus.»
Die Achse der Autoritären
Der Iran finanziert Terrororganisationen wie die Hisbollah im Libanon, die Hamas in den Palästinensergebieten, und mischt in Syrien, Irak und Jemen mit.
«Der Iran ist Teil einer Achse des Autoritären: Moskau – Peking – Teheran, die unsere liberalen Demokratien und Lebensweise als Feind sieht. Es geht um die Vernichtung der Vorstellung von Demokratie und Freiheit und darum, unsere Gesellschaften zu destabilisieren.»
Der Iran ist ein Staat, der nur die Sprache der Gewalt kennt.
All die Debatten rund um Terrorismus und Islamismus seien ohne das Agieren der Islamischen Republik nicht denkbar: «Genauso, wie es in der Ukraine um unser aller Freiheit geht, geht es auch in Teheran um unser aller Freiheit.»
Gottesstaat ohne Gläubige
Das Regime geht weiterhin mit aller Härte gegen die Proteste vor. Bisher gibt es mindestens 314 Tote, Tausende Verletzte, 14'000 Verhaftete. Letzte Woche forderte das Parlament mit grosser Mehrheit, dass die Demonstrierenden im Schnellverfahren zum Tode verurteilt werden sollen.
«Der Iran ist ein totalitärer Gottesstaat. Ein Staat, der nur die Sprache der Gewalt kennt», so Espahangizi. «Schätzungen gehen aber davon aus, dass nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung diesen Staat ideologisch stützen.» Der Iran sei ein Gottesstaat ohne Gläubige, heisst es deshalb manchmal.
Aufgeben ist keine Option
Trotz der Brutalität gehen die Menschen weiterhin auf die Strasse und leisten Widerstand.
«Diese Unerschrockenheit ist unglaublich», so Negin Winkler. «Auch ich habe dank der Frauen im Iran meine Stimme wieder gefunden.» Zum ersten Mal könne sie über die echte Negin Winkler reden.
«Ich kann meine Erfahrungen teilen, die ich als Frau im Iran gemacht habe. Es ist eine Geschlechterapartheid.» Ein Unterdrückungssystem, das in alle Bereiche des Lebens eindringe.
Ich wurde gebrochen.
«In der Schule wurde ich des Satanismus bezichtigt, weil ich Musik von Bon Jovi und Metallica hörte.» Daraufhin musste sie in einen «Korrekturkurs» mit einem Mullah und bekam Medikamente, als sei sie psychisch krank: «Ich wurde gebrochen.»
Viermal hat die Sittenpolizei sie festgenommen. «Einmal haben sie mich so brutal geschlagen, dass ich eine Nacht ins Spital musste. Der Arzt meinte, ich könne froh sein, dass ich noch lebe.»
Zurück im Leben
Das letzte Mal verhaftet wurde Negin Winkler 2013 während eines kleinen Konzertes. Sie hat die Daf gespielt, eine Rahmentrommel. Die Polizei unterbrach das Konzert und nahm Negin Winkler vorübergehend fest.
Daraufhin entschloss sie sich, ihr Studium im Ausland fortzusetzen. «Die Daf habe ich mitgenommen, aber praktisch nie mehr angerührt.»
Bis jetzt: An einer Solidaritäts-Demo für Iran hat sie zum ersten Mal wieder richtig gespielt. Es war, als sei das Leben zurückgekommen.