Seit bald zwei Monaten protestieren in Iran Tausende vor allem junge Menschen – darunter viele Frauen – gegen die Unterdrückung durch das islamische Regime. Die Regierung greift hart durch: Laut Menschenrechtsorganisationen wurden mehrere Hundert Menschen getötet, Tausende sind verhaftet worden. Jetzt fordert die «Opposition» im Parlament Neuwahlen. Das aber sei bloss eine Finte des Regimes, sagt Iran-Kenner Ali Fathollah-Nejad.
SRF News: Eine Oppositionspartei im Parlament fordert Neuwahlen. Was ist davon zu halten?
Ali Fathollah-Nejad: Das ist mit Vorsicht zu geniessen – in Iran gibt es keine echte politische Opposition. Wer jetzt Neuwahlen fordert, ist die systemnahe reformistische Partei. Das Resultat solcher Wahlen wäre schon jetzt klar, es würde sich nichts ändern.
Das Resultat von Neuwahlen wäre schon jetzt klar, es würde sich nichts ändern.
Der Ruf nach Neuwahlen soll die Menschen in Iran beschwichtigen und ihnen suggerieren, dass es danach zu Veränderungen im Land kommen könnte. Doch das ist eine Schimäre, denn die politisch-islamistische Elite bliebe an der Macht. In Iran gibt es keine freien Wahlen. Und auch die sogenannten Reformer haben ihre Glaubwürdigkeit im Volk verspielt, weil sie keinerlei Reformen im Sinne des Volkes eingeleitet hatten, als sie an der Macht waren. Deshalb erhielt ihr Präsidentschaftskandidat bei der letzten Wahl noch ganze drei Prozent der Stimmen.
Man hat den Eindruck, dass die Proteste in letzter Zeit etwas stagnieren. Wie festgefahren ist die Situation in Iran?
Das Land befindet sich in einem revolutionären Prozess, dessen Dauer schwer vorherzusehen ist. Auch wenn der aktuelle Aufstand niedergeschlagen wird, wird der Prozess weitergehen. Den Menschen in Iran ist klargeworden, dass tatsächliche Reformen innerhalb des bestehenden Systems nicht möglich sind. Wie es mit den Protesten unmittelbar weitergeht, wird sich zeigen. Sicher ist: Der aktuelle Aufstand stellt etwas qualitativ Neues dar: Er ist schicht- und ethnienübergreifend.
Könnte die Forderung der Parlamentsmehrheit nach drakonischen Strafen für die Verhafteten – es ist sogar von der Todesstrafe die Rede – die Proteste beeinflussen?
Das iranische Regime spielt die gesamte Bandbreite der Repression: So ging es mit grösster Brutalität in den Kurden- und Balutschengebieten gegen Protestierende vor. Jetzt kommt vom Parlament das Signal, dass Protestierenden die Todesstrafe droht – eine weitere Eskalation.
Das Regime reagiert panisch.
Die Entwicklung zeigt: Das Regime reagiert panisch und befürchtet, dass der Aufstand weitergehen könnte. Das ist in der Tat der Fall, wenn inzwischen auch eher sporadisch und dezentral. Das Regime hat es noch nicht geschafft, alle Flammen des Protests zu ersticken.
Wird die Protestbewegung der massiven Repression standhalten?
Die iranische Gesellschaft beweist bei den aktuellen Protesten eine grosse Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit. Das hat auch mit einer neuen, jüngeren Generation zu tun, die diesmal demonstriert.
Der Protest hat eine beispiellose gesellschaftliche Breite erreicht.
Auch gibt es immer wieder Solidaritätsbekundungen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – beispielsweise von Sportlern. Der Protest hat eine beispiellose gesellschaftliche Breite erreicht.
Was bräuchte die Protestbewegung, damit sie wieder an Fahrt gewinnen kann?
Ein möglicher Faktor wären breit angelegte Streiks, etwa in der Industrie. Wenn beispielsweise die Energieversorgung zusammenbrechen würde, könnte das sehr gefährlich werden für das Regime. Ein anderer Faktor könnten die Sicherheitskräfte spielen, falls es dort zu Brüchen kommt.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.