Wohin man auch geht: Die Diskussion über Pappbecher und Plastiksäckli folgt einem. Böse Blicke, wenn jemand dann doch zum Styropor greift, Augenrollen aber auch beim Thema Veganismus. Wie viel Wasser Kaffee verbraucht – ein gern diskutiertes Thema an Schweizer Zmorgentischen. Und in Zeiten von Corona staunt man über die grosse Leere im Konserven-Regal.
Jeder Konsum ein Statement
Was und wie wir konsumieren, spiegelt immer den Zeitgeist. Es erzählt von Begehrlichkeiten, Träumen und manchmal auch Ängsten. Man ist, was man konsumiert, scheint der gesellschaftliche Konsens zu sein. Ob wir uns nun Luxusmarken gönnen oder uns im Brockenhaus eindecken – jeder Konsum-Akt gilt als ein Statement.
In manchen Kreisen ist der Konsum in Verruf gekommen. Nachhaltigkeit liegt im Trend. Es werden Alternativen erprobt, um den alltäglichen Verbrauch von Gütern oder zumindest seine schädlichen Folgen zu verringern. Eine Studie des WWF Schweiz aus dem Jahr 2018 zeigt: Neun von zehn Schweizerinnen und Schweizern denken darüber nach, ihren Konsum zu reduzieren.
Trotzdem konsumieren wir weiter auf Rekordniveau: Würden alle Länder so viel wie die Schweiz konsumieren, bräuchte es dafür laut Bundesamt für Umwelt fast drei Erden.
Konstruktiv Konsumieren?
Unser Verhältnis zum Konsum scheint also gespalten. Wir nehmen ihn einerseits als selbstverständlich, andererseits wissen wir um seine Kehrseite: die Belastung der Umwelt, die Müllberge, die prekären Produktionsbedingungen.
Doch ist Konsum so schlecht wie sein Ruf? Oder kann er auch – über rein wirtschaftliche Aspekte hinaus – konstruktiv sein?
Konsum in den letzten 600 Jahren
Stellt man dem deutschen Historiker Frank Trentmann diese Frage, dann verweist er auf die wechselvolle Geschichte des Konsums. Darüber hat Trentmann, der am Birkbeck College der Universität London lehrt, einen 1000-seitigen Bestseller geschrieben: «Herrschaft der Dinge».
Das Buch ist deshalb so interessant, weil Trentmann etwas tut, das im Konsumbereich selten bis nie getan wird: Er schaut nicht bloss im Heute, wie man Konsum humaner und umweltverträglicher machen kann. Sondern er nutzt den historischen Rückspiegel und analysiert die vergangenen 600 Jahre Konsum-Geschichte.
An drei Beispielen aus dem Buch – Mode, Mobilität und Ernährung – lässt sich aufzeigen, wie sich der Konsum von Gütern und der gesellschaftliche Zeitgeist wechselseitig beeinflussen. Und dass dieser Einfluss durchaus auch positiv sein kann – oder künftig sein könnte. Wenn wir unser Konsumverhalten entsprechend anpassen.
Beispiel Kleidung: Kleider machen Leute
Anhand der Kleidung lässt sich am einfachsten erzählen, wer wir sind oder gerne sein möchten. Dass wir unsere Kleidung frei wählen können, war im 18. Jahrhundert noch nicht so. «Damals gab es in Basel tausende Frauen, die mit Strafen belegt wurden, weil sie die Kleiderordnung brachen und modische Sachen ausländischer Hersteller trugen», erzählt Frank Trentmann.
Als Geldverschwendung galt damals, sein Geld für «modische» und «exotische» Gegenstände auszugeben. Indem die Frauen sich also den gesellschaftlichen Normen widersetzten, forderten sie ihr Recht auf Selbstbestimmung ein. Die Mode machte die Emanzipation der Frauen sichtbar – lange bevor die Politik reagierte.
Zuerst der Konsum, dann die Industrie
Ausserdem wird, so Trentman, der Einfluss des Mode-Konsums auf die industrielle Revolution oft unterschätzt: «Es gab nicht erst Fabriken, damit Leute dann billig modische Produkte kaufen konnten. Sondern die Reihenfolge ist umgekehrt: Den Massenkonsum an modischen Baumwolltüchern gab es schon um 1700, bevor die grossen Industriefabriken produzierten.»
Bevor die Textilindustrie auch hierzulande auf das Bedürfnis an modischer Kleidung reagierte, wurden einfach Baumwollprodukte von indischen Handwerksbetrieben eingekauft.
Die Macht der Konsumenten
Der Blick in die Geschichte zeigt aber auch: Nicht nur die Mode erneuert sich ständig, sondern auch deren Produktionsweisen. Dies macht Trentmann an einem Beispiel deutlich: «Im 19. Jahrhundert wurden die Firmen mit Boykotten dazu getrieben, angemessene Bedingungen einzurichten, Kinder unter einem bestimmten Alter nicht anzustellen, sicherzustellen, dass Jugendliche bestimmte Schulzeiten abwickeln.»
Konsumentinnen und Konsumenten hatten damals also durchaus die Macht, an Produktionsbedingungen etwas zu verändern. Etwas, das grundsätzlich bis heute gilt und vorkommt.
Immer mehr, immer billiger
In den letzten 20 Jahren ist die Modeindustrie immer schneller geworden, Saisons sind passé. «Ständig wird Neues produziert, auch weil durch den Online-Handel die Durchflussrate stark zugenommen hat», so Historiker Frank Trentmann.
Trotzdem geben Schweizer Haushalte heute sehr viel weniger Geld für Mode aus als noch vor 70 Jahren. Heute sind es rund 2 Prozent des Budgets, damals waren es noch über 10 Prozen. Seit 1950 hat sich die Menge der gekauften Kleider aber schätzungsweise vervierfacht. Immer mehr, immer billiger – der Markt folgt unseren Bedürfnissen.
Fairtrade und Secondhand scheint in Schweizer Städten ein Trend. Es muss sich aber zeigen, ob sich dieser langfristig und in der breiten Masse durchsetzen kann.
Beispiel Mobilität: der Traum vom Fliegen
Unser Drang und unsere Möglichkeiten zu reisen sind immens. Diese Idee sei erst im 20. Jahrhundert aufgekommen, sagt Frank Trentmann.
Noch vor 100 Jahren gehörte ein Sommerurlaub, der tatsächlich den ganzen Sommer lang dauerte, nur in gehobenen Kreisen zum guten Ton. Man verbrachte die Monate Juli und August an einem einzigen Ort, beschäftigte sich mit sommerlichen Romanzen und Dramen und verfasste darüber lange Briefe. Der Rest der Bevölkerung konnte sich keinen Urlaub leisten.
Arbeiter werden zu Urlaubern
Erst in den 1960er-Jahren änderte sich das. Die Firmenbosse reduzierten die Ferientage. Produktivität galt als schick und nötig. «Als Manager verliere ich meinen Status, wenn ich zwei Monate im Urlaub weile, nur aufs Meer schaue und lese», das sei damals die Befürchtung der Elite gewesen, schreibt Trentmann.
Dafür wurde nun die Arbeiterschaft in Nordamerika und Europa zur Klasse der Urlauberinnen und Urlauber. Was ursprünglich ein Luxus war, wurde nun allen Schichten zugänglich.
Veränderungen sind möglich
Die nächste Mobilitätsrevolution kam mit den Billig-Fliegern: Die Gewohnheit des Weekendtrips per Flugzeug war geboren. «Dies wäre vor 20 oder 30 Jahren noch völlig undenkbar gewesen», so Trentmann. Im Hinblick auf die ökologische Belastung eine unschöne Entwicklung.
Für Historiker Trentmann, der 600 Jahre Konsum-Geschichte im Blick hat, zeigt sich beim Stichwort Mobilität aber auch klar, dass Veränderungen möglich sind – und zwar in relativ kurzer Zeit: «Vor nicht so langer Zeit sind die Leute nicht mit dem Auto zur Arbeit gefahren oder fünfmal im Jahr zu Kurzurlauben aufgebrochen.»
Die eigene Mobilität hinterfragen
Heute werden in der Schweiz immer noch die meisten Kilometer im Privatauto zurückgelegt. Dennoch wurde noch nie so viel ÖV gefahren wie heute, seit 2000 haben sich die jährlich gefahrenen Zug-Kilometer verdoppelt.
Diese stete Zunahme hat zur Folge, dass auch die Infrastruktur ständig erweitert wird: Das ÖV-Netz wuchs zwischen 1962 und 2016 um fast 70 Prozent, so die Zahlen einer Publikation des Verbandes öffentlicher Verkehr aus dem Jahr 2018.
Für Trentmann ist Mobilität aber nicht nur eine Frage des Verkehrsmittels: «Lieber ein Schritt zurück und überlegen: Was ist eigentlich eine lebenswerte Form von Mobilität und wozu ist überhaupt diese ganze Mobilität da?»
Beispiel Ernährung: Viele Köche verändern den Brei
Ernährung ist gemäss Frank Trentmann ein Kapitel zahlreicher radikaler Umbrüche. Erst im 16. und 17. Jahrhundert halten Güter aus der ganzen Welt Einzug bei uns: Tee, Kaffee und Schokolade. Dies seien auch Dinge, die den Alltag veränderten, erklärt er. Tea Partys oder der morgendliche Kaffee: «Unvorstellbar vor 600 Jahren.»
Auch beim Fleischkonsum habe sich unsere Tischkultur verändert: «Anfänglich gab es Fleisch nur am Wochenende. Ab den 1960er-Jahren wird teils täglich Fleisch konsumiert.» Sich zu ernähren, wird mehr und mehr zu einem Genussritual und stiftet Identität.
Welker Salat – trotz guter Absichten
1919 gaben Schweizer noch fast die Hälfte ihres Geldes für Nahrungs- und Genussmittel aus, wie die Handelszeitung vorrechnet. Heute ist es mit nur 7 Prozent bedeutend weniger. Vielleicht auch darum werfen wir heute so leichtfertig Nahrungsmittel weg.
Trentmann glaubt, dass der Grund in unseren Alltagsgewohnheiten zu finden ist: «Wir gehen in den Supermarkt mit den besten Absichten, wollen etwa gesünder leben und kaufen Salat. Doch dann ruft ein Freund an.» Man verabrede sich, am zweiten Tag sei etwas anderes los und am dritten habe der Salat dann schon braune Flecken.
Der Einzug von Fair Trade
Wie schnell der Markt aber auch positive Veränderungen anstossen kann, zeigt sich etwa am Beispiel der Fairtrade-Banane. 1997 lanciert Max Havelaar die Banane als erstes Frischprodukt mit Fairtrade-Label und verdreifacht bald die Umsätze seiner Fairtrade-Produkte mithilfe dieses Zugpferdes.
Ab 2005 hat die Stiftung einen Marktanteil von über 50 Prozent. Die Non-Profit-Organisation ist seit 2001 selbsttragend, weil viele Konsumentinnen und Konsumenten im Regal nach Max Havelaar statt dem Standard-Produkt greifen.
Verzichten für die Zukunft?
Mode, Mobilität und Ernährung – die drei Beispiele zeigen: Menschen haben mit ihrem tagtäglichen Konsum die Macht, den Markt von morgen mitzugestalten.
Dazu brauche es aber eine Entschleunigung des Konsums, sagt Trentmann. «Wir hüpfen von einer Aktivität zur nächsten und versuchen möglichst viele Dinge (fast) gleichzeitig zu konsumieren. Das heisst, wir sind viel oberflächlichere Konsumenten, als noch vor zwei Generationen.»
Der Schlüssel: intensiver Konsumieren
Genau diese Hastigkeit bemängelt Frank Trentmann und rät zu einem tieferen, intensiveren Konsum: «Mit einer geringeren Anzahl an Konsum- und Freizeitaktivitäten kann man trotzdem mehr Genuss rausholen.» Im Hinblick auf die Umwelt solle man sich ganz genau überlegen, was einem eigentlich wichtig sei.
Der Verzicht bereite aber oft Mühe: «Wir wollen nachhaltiger konsumieren, aber wir wollen genau so leben, wie wir jetzt leben», glaubt Trentmann. Und: Der Einfluss des individuellen Konsums habe auch Grenzen.
Internationale Interventionen nötig
Es sei nichts dagegen einzuwenden, bio, fair, saisonal, sozial oder regional einzukaufen, so Trentmann: «Das ist gut, dass die Menschen das machen, aber man muss sich klar sein, was die Grenzen dieser Art von Konsum sind.»
Um wirklich etwas verändern zu können, müssten grössere Stellräder bewegt werden: «Die einzelnen können zwar eine politische Veränderung antreiben. Aber es benötigt internationale Politik und Interventionen, um wirklich etwas zu bewirken.»