Die Schweiz strotzt vor sogenannten «Kraftorten». Auch Schweiz Tourismus wirbt damit und verspricht: Dort «tanken Menschen Energie» und «laden die Batterien auf». Das klingt gut, gerade in Zeiten von erhöhtem Druck und Stress bei der Arbeit.
An Kraftorten spüren einige Menschen ein wohltuendes Kribbeln an Händen und Füssen oder ein angenehmes Gefühl im ganzen Körper, andere werden durchgeschüttelt. Menschen, die Kraftorte aufsuchen, finden, dass sie dadurch zufriedener und ausgeglichener sind. Dies gilt auch für Menschen, die Spiritualität in der Natur leben.
Mit Pendel und Wünschelrute im Einsatz
An Kraftorten soll es «erhöhte natürliche Energie» geben. «Bereits unsere Vorfahren haben Kraftorte als Orte der Macht und des Glaubens genutzt», erklärt Kraftort-Forscherin Andrea Fischbacher. Dort hätten sie Versammlungen abgehalten und Rituale durchgeführt. Diese Kraftplätze seien oftmals christianisiert worden.
Kraftort-Forscherin Andrea Fischbacher räumt ein: «Wir haben kein Messgerät, um die Stärke und die aufbauende Kraftqualität zu messen. Wir können nur testen.»
Getestet wird mithilfe eines Pendels oder einer Wünschelrute. Darauf übertrage sich die Muskelspannung des Menschen. Die Intensität der «Erdstrahlung» wird auf Tabellen in sogenannten Bovis-Einheiten abgelesen, benannt nach dem französischen Physiker André Bovis (1871–1947).
Esoterischer Humbug?
Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler winken ab: Die sogenannten Bovis-Werte lassen sich physikalisch nicht nachweisen. Es gebe keine physikalische Methode, um die Erdstrahlung an Kraftorten zu messen.
Bleiben sogenannte Doppelblindstudien, bekannt aus der Medizin. Dabei wird eine statistisch relevante Anzahl Menschen zu Kraftorten und Orten ohne Kraft geführt. Sie müssen angeben, ob es sich um einen Kraftort handelt oder nicht. Auch diese Studien zu Kraftorten seien nicht verlässlich, betont die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens von der Universität Zürich.
Der österreichische Arzt Arnulf Hartl geht einen anderen Weg. Er sucht einen Nachweis für die Wirkung der Natur auf den Menschen in der medizinischen Praxis. Hartl ist von der Heilkraft der Alpen überzeugt: Wandern helfe bei Rückenschmerzen und Bewegung in der freien Natur bei Depressionen. Er leitet das Institut für Ökomedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg.
Kraftorte als Heilquelle
Hartl führt Studien mit Asthmatikern an den Krimmler Wasserfällen im Salzburger Land durch. Knapp 400 Meter stürzt das Wasser der grössten Wasserfälle Österreichs in die Tiefe. Beim Aufprall entstehen feinste Aerosole. Das Einatmen dieses Wasserstaubs sei für Asthmatiker eine Heilquelle, erklärt Hartl.
Kraftorte als Orte der Heilung? Dorothea Lüddeckens kann dem durchaus etwas abgewinnen. Es spreche nichts dagegen, Kraftorte als Ressource zu nutzen und medizinische Behandlungen zu ergänzen.
Die Religionswissenschaftlerin fügt hinzu: «Es wird dann gefährlich, wenn Menschen sagen, ich breche die Chemotherapie ab, setze mich an einen Kraftort und der Krebs ist besiegt.»
Die Wirkung zählt
Viele Menschen suchen Kraftorte auf und tanken in der Natur Kraft. Dafür brauchen sie keinen naturwissenschaftlichen Nachweis. Sie gehen raus in die Natur, um sich zu erholen oder ihr Bewusstsein zu erweitern. Die Verankerung der Menschen in traditionellen Religionen nimmt ab. Das Bedürfnis nach besonderen Orten und Zeiten bleibt. Dabei ist auch die Natur wichtig.
Bron Taylor ist überzeugt: Die Natur spielt eine zunehmend grössere Rolle im Leben vieler Menschen. Der US-amerikanische Professor forscht schon seit Jahrzehnten am Schnittpunkt zwischen Religion und Natur.
Forschung zu Naturspiritualität
Taylor fasste seine Forschung im Buch «Dark Green Religion» zusammen, das 2020 auf Deutsch übersetzt wurde. Mit der «Dunkelgrünen Religion» hat Bron Taylor einen analytischen Begriff geschaffen, unter dem er naturspirituelle Phänomene zusammenfasst.
Laut dem Religionswissenschaftler verbinde die naturspirituellen Menschen eine tiefe Liebe und Ehrfurcht für die Natur: die Idee, dass die Natur «heilig» (Englisch: «sacred») sei.
Die Natur habe einen intrinsischen Wert; also einen Wert, der nicht vom Nutzen für den Menschen abhänge und sei deshalb schützenswert. Oftmals seien solche Ansichten mit transformierenden Erfahrungen in der Natur verbunden, die manchmal auch angsteinflössend sein können. Man erlebt die enorme Kraft eines Sturms und fühlt sich dabei ganz klein. Solche Erfahrungen führten zu einer «Erosion des Egos» und dazu, dass Menschen eine Ehrfurcht entwickeln.
Der Trend geht zur Natur
Bron Taylor beobachtet den Trend, dass sich immer mehr Menschen naturspirituellen Auffassungen zuwenden. Er erklärt es sich so, dass sich solche Ansichten gut mit der westlichen Wissenschaft kombinieren lassen. Naturspiritualität könne durchaus naturalistisch sein. Das bedeutet, dass es innerhalb der «Dunkelgrünen Religion» Menschen gäbe, die sich komplett der Wissenschaft verschrieben haben.
Viele Menschen würden sich aber zwischen den Polen «spirituell» und «naturalistisch» bewegen. Viele würden nämlich auch glauben, dass es Dinge gibt, die wir durch wissenschaftliche Methoden nicht oder noch nicht erklären können. So umfasst die «Dunkelgrüne Religion» ein sehr breites Spektrum.
Naturspiritualität und Klimakrise
Die Klimakrise hat gemäss Taylor den Trend zu Naturspiritualitäten noch weiter befeuert. Dass wir fast täglich damit konfrontiert würden, welche Auswirkungen der Klimawandel auf uns hat, habe viele Menschen dazu gebracht, sich mit dem Wert der Natur auseinanderzusetzen. Viele würden wegen der Klimakrise und der Zerstörung von Lebensräumen vermehrt die eigene emotionale Verbindung zur Natur suchen.
Bei der «Dunkelgrünen Religion» müsse man das Wort «Religion» neu denken, betont Taylor. «Dunkelgrüne Religionen» haben keine Institutionen im klassischen Sinne, wie Kirchen oder Moscheen, so Taylor. Naturspirituelle Ansichten seien überall in der Popkultur anzutreffen.
Er nennt Filme wie «Avatar», oder Musik wie zum Beispiel der «Earth Song» von Michael Jackson. Auch Dokumentarfilme würden oft versuchen, die Menschen auf einer emotionalen Ebene anzusprechen, die durchaus als eine Art Naturspiritualität betrachtet werden könne.
«Dunkelgrüne Religion» als Weltreligion?
Bron Taylor glaubt, dass sich die «Dunkelgrüne Religion» zu einer neuen Art Weltreligion entwickeln könnte: «Wenn Sie zur Zeit der Propheten gelebt hätten, hätten Sie geglaubt, dass in 500 oder 1000 Jahren eine Mehrheit der Weltbevölkerung diesen Menschen folgt? Wahrscheinlich nicht.»
Taylor sagt, dass ein rapider sozialer Wandel im Gange sei. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass immer mehr Menschen den Sinn fürs Leben in der Natur suchen. Denn diese Suche nach einem Sinn werde nicht verschwinden, auch wenn organisierte Religionen immer mehr Mitglieder verlieren: «Wir Menschen sind im Grunde sinnsuchende Wesen», meint Taylor.