Für eine Lese-Rechtschreib-Schwäche gibt es verschiedene Ursachen. Betroffene Kinder können diesen Nachteil zum Teil wettmachen – vorausgesetzt, sie werden angemessen gefördert. Wie das gelingt, erklärt die Leseforscherin Miriam Dittmar.
SRF: Wie äussert sich bei Kindern eine Lese-Rechtschreib-Schwäche?
Miriam Dittmar: Es fängt meist damit an, dass ein Kind den schulischen Anforderungen nicht genügen kann und folglich Auffälligkeiten zeigt. Dieses auffällige Verhalten ist aber nicht immer einfach interpretierbar, denn es kann sich zum Beispiel darin äussern, dass das Kind im Unterricht nicht mitmacht oder träumt. Daher muss man genau hinschauen. Während zum Beispiel die meisten Kinder in der Klasse schon recht flüssig vorlesen, hat das Kind vielleicht immer noch Probleme beim Wortlesen: Es kann Einzellaute nicht zusammenziehen, liest buchstabierend, es lässt Laute aus oder vertauscht sie. Ähnlich sieht’s beim Schreiben aus. Lehrpersonen können hellhörig werden, wenn das sogenannte lautgetreue Schreiben ausbleibt: Wenn Laute, die man gut hört in der gesprochenen Sprache, nicht verschriftlicht werden.
Wie reagieren Lehrpersonen auf solche Auffälligkeiten?
Idealerweise kommt es dann zu einem Austausch zwischen der Klassenlehrperson und den schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Diese stellen eine Diagnose mit geeigneten Instrumenten und leiten daraus Massnahmen ab, um das Kind zu fördern. Leider aber wird dieser Weg nicht immer eingeschlagen, oft kommt es vor, dass Kinder im Unterricht einfach nicht mitkommen. Sie können dann zum Beispiel schriftliche Anweisungen nicht richtig ausführen oder nicht richtig von der Tafel abschreiben. Oft heisst es dann, sie würden sich nicht genügend konzentrieren, sich keine Mühe geben oder seien unmotiviert.
Also Zuschreibungen, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun haben.
Genau. Und das sind natürlich schlechte Wege. Dann bleibt auch die Förderung aus, doch die braucht es unbedingt. Wir vom Zentrum Lesen empfehlen deshalb auch, dass Schulen zum Schuljahresbeginn sogenannte Lernstandserhebungen für die Lesekompetenz durchführen. Gerade für die Leseleistung sind das relativ einfache Verfahren, die sich gut im Klassenverband durchführen lassen.
Eine Legasthenie zu diagnostizieren, ist sehr komplex.
Hier genau hinzuschauen ist wichtig, denn die Lesekompetenz als überfachliche Kompetenz trägt massgeblich zum Bildungserfolg der Kinder bei: Wenn ich nicht verstehend lesen kann, dann werde ich auch in Mathematik keine Textaufgaben lösen können, obwohl ich in Mathe vielleicht gut wäre. Auch Sachtexte verstehe ich nicht, somit bleibt mir dieser wichtige Zugang zum Lernen verwehrt. Das geht zulasten sämtlicher Fächer in der Schule.
Man kennt Lese-Rechtschreib-Schwäche auch unter den Begriffen Legasthenie oder Dyslexie. Was genau versteht man darunter?
Der Begriff ist so definiert, dass Kinder beim Lesen und / oder in der Rechtschreibung Schwächen aufweisen, die nicht ihrer Intelligenz entsprechen. Das heisst, bei einem Intelligenztest erreichen solche Kinder durchschnittliche oder überdurchschnittliche Werte, bei einem Lese-Rechtschreibtest jedoch unterdurchschnittliche Werte. Es gibt aber auch lese- und rechtschreibschwache Kinder, die diese Diskrepanz nicht aufweisen, das heisst, sie sind ganz allgemein schulisch eher schwach.
Heisst das, hinter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche stehen unterschiedliche Ursachen?
Genau. Es gibt zum Beispiel Kinder, die Mühe haben mit der visuellen Wahrnehmung. Die Feinmotorik der Augen, die man zum Lesen braucht, funktioniert bei ihnen nicht ausreichend. Wenn das Zusammenspiel beider Augen nicht klappt, erscheint der Text als Doppelbild oder wird nicht schnell genug scharf gestellt. Auch mit den Augen von Wort zu Wort zu springen, bereitet diesen Kindern Mühe. So wird es für sie schwierig, das Lesen zu erlernen und zu automatisieren.
Betroffene Kinder sollten unbedingt Förderung bekommen.
Eine andere Ursache kann sein, dass ein Kind bis zum Schuleintritt sprachlich nicht ausreichend gefördert wurde; ihm wurde vielleicht wenig vorgelesen, und es kam auch kaum in Kontakt mit Büchern. Ein solches Kind ist beim Schuleintritt sprachlich benachteiligt. Das kann sich auf die ganze Schullaufbahn auswirken: Dieses Kind wird es sehr wahrscheinlich schwer haben, bei der Lese- und Schreibkompetenz das gleiche Niveau zu erreichen wie ein Kind, das von Geburt an viel förderlichen sprachlichen Input bekommen hat.
Eine soziale Benachteiligung also. Aber das ist nicht das Gleiche wie Legasthenie?
Nein. Eine klassische Legasthenie oder Dyslexie ist eine neurologische Störung, bei der die Sprachverarbeitung nicht so funktioniert, wie sie sollte. Eine Legasthenie zu diagnostizieren, ist sehr komplex. Man muss sich das Problem so vorstellen: Um gesprochene oder visuelle Sprache – also Schrift – wahrzunehmen, muss ich diese Sprache eine gewisse Zeit lang in meinem Arbeitsgedächtnis verarbeiten können; man muss sozusagen aufrechterhalten, was gerade gesagt oder gelesen wurde, um das im nächsten Schritt verarbeiten zu können. Wenn dieser erste Schritt problematisch ist, dann wird das Weiterverarbeiten von sprachlicher Information und damit das Verstehen schwierig.
Wie kann man diese Kinder unterstützen, ohne sie zu pathologisieren?
Betroffene Kinder sollten unbedingt Förderung bekommen, und zwar egal, welche Ursache der Lese-Rechtschreib-Schwäche zugrunde liegt. Bei Studien, welche die Effekte von Fördermassnahmen untersucht haben, konnten die verschiedenen «Gruppen» von lese- und schreibschwachen Kindern gar nicht unterschieden werden, das heisst: Intelligente, legasthenische Kinder lernen dank Fördermassnahmen nicht schneller oder langsamer als weniger intelligente Kinder mit ähnlichen Minderleistungen in der Schriftsprache. Deswegen würde ich dafür plädieren, auf diese Untergruppen zu verzichten und einfach festzuhalten: Es gibt lese- und schreibschwache Kinder, die eine zusätzliche, spezifische Förderung zum Regelunterricht brauchen.
Wie wird konkret gefördert? Haben Sie ein Beispiel?
Ein erstes Ziel ist, Wörter gut und effizient zu lesen. Wir lesen ja Wörter normalerweise automatisch, wir erkennen sie auf einen Blick. Ein lese-schreib-schwaches Kind kann das nicht: Es erkämpft sich ein Wort sozusagen Buchstabe für Buchstabe. Um davon wegzukommen, baut man im Förderunterricht Zwischenschritte ein. Übt mit den Kindern zum Beispiel das Erkennen von Silben oder auch Morphemen – bedeutungstragenden Einheiten von Wörtern wie -keit oder -heit, oder auch die Einzelwörter in zusammengesetzten Wörtern, wie Regen und Wurm in Regenwurm. Über diese Segmentierung werden die Kinder sensibilisiert für den Wortaufbau und bewegen sich so allmählich hin zum ganzheitlichen Erkennen von Wörtern. Mit der Zeit können sie ein Wort oder Wörter angemessen schnell lesen, so dass kognitive Ressourcen freiwerden, um die Bedeutung von Sätzen zu verstehen, und mit der Zeit ganze Texte.
Können alle leseschwachen Kinder irgendwann flüssig lesen und das Gelesene verstehen?
Die Fördermassnahmen setzen dort an, dass man diese Kinder in Richtung der sich normal entwickelnden Kinder bringen will. Damit sie dann irgendwann in der Lage sind, dem Regelunterricht zu folgen. Das sind Kinder, die sich zwar langsamer entwickeln als der Durchschnitt, aber dank Förderung den Rückstand so weit wettmachen können, dass eine Leseförderung im Klassenverband auch für sie greift.
Das Ziel muss sein, die Grundanforderungen im Lesen und Schreiben am Ende der Schulzeit zu beherrschen.
Tatsächlich gibt es aber auch Kinder mit eigentlichen Lesestörungen, denen zum Beispiel eine neurologische Spracherwerbsstörung zugrunde liegt. Solche Kinder werden es wahrscheinlich immer schwer haben, dem Tempo einer Regelklasse zu folgen. Trotzdem profitieren auch diese Kinder von der Förderung, indem sie in ihrem individuellen Lernprozess beschleunigt werden. Die landen vielleicht nie da, wo sich ein sich normal entwickelndes Kind hinbewegt, aber sie können sich annähern.
Und wenn man sie einfach von den Noten befreit?
Notenbefreiung oder auch Nachteilsausgleich sind bei der Diagnose einer Lese-Rechtschreib-Schwäche schnell ein Thema, viele Schulen haben das eingeführt, und das ist auch richtig so, um die momentane schwierige Situation dieser Kinder zu entschärfen und so Schulfrust oder Schulangst vorbeugen zu können. Aber ohne Förderung bringt es überhaupt nichts, Kinder von Noten zu befreien. Denn dann entwickeln sie sich nicht weiter. Das Ziel muss sein, dass sie Grundanforderungen im Lesen und Schreiben am Ende der Schulzeit beherrschen – damit sie später als Erwachsene gesellschaftlich partizipieren können.
Das Gespräch führte Irène Dietschi.