Manchmal weiss Sebastian Steffen selbst nicht, ob seine Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben mit seiner Legasthenie zusammenhängen. Oder mit dem negativen Selbstbild, das er sich in all den Jahren aufgebaut hat. «Wenn man drei Bücher geschrieben hat, könnte man ja auch denken: Eigentlich sollte es jetzt ja gehen», sagt er.
Eigentlich. Dennoch sind da Zweifel, Ängste, die Sebastian Steffen seit seiner Kindheit begleiten. Und die auch der Erfolg als Autor nicht ausräumen kann.
Sebastian Steffen hat das Schweizerische Literaturinstitut Biel besucht und dort einen Abschluss gemacht. Vor ein paar Monaten hat der 40-Jährige aus Biel sein drittes Buch veröffentlicht: «Ich wett I chönnt Französisch».
Es gibt Menschen, die können hervorragend kommunizieren, aber nicht richtig schreiben.
Der Mundart-Roman, der im Verlag «Der gesunde Menschenversand» erschienen ist, greift auf ein Ereignis aus Sebastian Steffens Kindheit zurück: einen Mordfall im Berner Seeland. Sebastian Steffen hat keinen Krimi daraus gemacht, sondern eine sensible Geschichte um Freundschaft und Verlust und das Gefühl der Verlorenheit in einer Welt, die sich fremd anfühlt.
Das Buch – und seine beiden Vorgänger – kommen gut an bei der Kritik. Sebastian Steffen könnte eigentlich entspannt durchatmen. Oder? Eigentlich sollte es doch gehen. Wären da nicht die Zweifel. Und die Vorurteile der anderen.
«Ja, die Vorurteile», sagt Monika Brunsting. Sie ist Psychologin und Psychotherapeutin und auf Legasthenie spezialisiert. Die Vorurteile, Legastheniker seien dumm, halten sich hartnäckig. Natürlich gebe es Menschen, die Fehler beim Schreiben und Lesen machen, weil sie weniger intelligent sind.
Doch bei Legasthenie-Betroffenen liegt die Sache anders: Sie machen Fehler, obwohl sie intelligent sind. Viele Menschen mit Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Störung, kurz LRS, seien sogar besonders sprachbegabt. «Es gibt Menschen, die können hervorragend kommunizieren und ganze Geschichten erzählen, aber sie können nicht richtig schreiben», sagt Monika Brunsting.
Meine Geschichten wären gut angekommen, wenn die Lehrperson mehr auf den Inhalt geachtet hätte.
Sebastian Steffen hat schon als Kind Geschichten geliebt. Geschichten, die seine Mutter ihm erzählt hat. Geschichten, die er sich ausgedacht hat. Und Geschichten, die er in Schulaufsätzen zu Papier gebracht hat.
Das hat ihm, zumindest am Anfang, durchaus Spass gemacht. «Meine Geschichten wären auch gut angekommen», erzählt Sebastian Steffen, «wenn die Lehrperson mehr auf den Inhalt geachtet hätte. Und weniger auf die Form.»
Ein Problem, mit dem bis heute viele Schülerinnen und Schüler zu kämpfen haben. Sie empfinden die Orthografie als ein so unflexibles wie unverständliches Raster, in das sie hineingepresst werden sollen, obwohl sie nicht hineinpassen.
Zwar gibt es in der Pädagogik aktuell wieder einen Trend zu mehr Fehlertoleranz. Doch die Gesellschaft zieht dabei nicht unbedingt mit. Bei der Bewertung von Bewerbungsschreiben steht eine möglichst fehlerfreie Rechtschreibung nach wie vor ganz oben. Auch dann, wenn es um Tätigkeiten geht, bei denen die Bewerbenden nur sehr wenig mit Texten zu tun haben werden.
«Wortblind» oder «minderbemittelt»?
Diskussionen über Sinn und Unsinn von Rechtschreibung gibt es, seit es Rechtschreibregeln gibt. Ende des 19. Jahrhunderts wird erstmals beobachtet, dass es Menschen gibt, die in besonderer Weise mit dem Lesen und Schreiben hadern.
Der Internist Adolf Kussmaul beschrieb das Phänomen als eine Art Sehstörung und nannte es «Wortblindheit». Der Begriff «Legasthenie» wurde 1916 von dem Psychiater Pál Ranschburg eingeführt. Ranschburg hielt Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche für geistig minderbemittelt und er setzte sich dafür ein, dass die betroffenen Kinder in Förderklassen und Sonderschulen geschickt wurden.
Eine Weichenstellung mit weitreichenden Folgen. Legasthenie-Betroffene galten als dumm. Eine Vorstellung, die sich hartnäckig hält. Obwohl es Forschungen gab und gibt, die das Gegenteil zeigen.
Die Psychologin Maria Linder setzte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren dafür ein, Legasthenie als eine Beeinträchtigung des Lesens und Schreibens bei einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz zu sehen. Dies führte dazu, dass Ranschburgs Theorien infrage gestellt und die Betroffenen wieder in den Regelunterricht integriert wurden.
In den 1970er-Jahren kam eine «Anti-Legasthenie-Bewegung» auf, die behauptete, es gebe keine Lese-Rechtschreib-Störung. Kinder, die Probleme mit der Orthografie hätten, seien einfach nicht gut genug unterrichtet worden. In den 1980er-Jahren formierte sich eine starke Gegenbewegung. Heute gilt Legasthenie als Krankheit, die genetische und neurologische Ursachen haben kann.
Rechtschreibung ist nicht gottgegeben
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die Lese-Rechtschreib-Störung immer wieder Diskussionsbedarf erzeugt. Ein Punkt, der dabei oft vergessen geht: Die Schriftsprache ist nicht vom Himmel gefallen. Die «Übersetzung» von Lauten in Schriftzeichen ist keineswegs so natürlich, wie es manchen scheinen mag. Logisch und regelmässig ist sie nur in wenigen Sprachen.
Englisch und Französisch sind besonders fies.
Polnisch und Finnisch gelten als lauttreue oder phonetische Sprachen, in denen alles so gesprochen wird, wie es geschrieben wird. Auf der anderen Seite gibt es Sprachen, die «besonders fies sind», wie Psychologin Monika Brunsting sagt. Englisch zum Beispiel oder Französisch. Deutsch liegt irgendwo dazwischen. Legasthenie gibt es in allen Sprachen.
Mit Alltagstricks gegen den Schreibstress
In der Schweiz sind rund fünf Prozent der Bevölkerung von Legasthenie betroffen. Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Betroffenen, die es geschafft haben, die Schule trotz ihrer Legasthenie irgendwie hinter sich zu bringen, seien oft wenig motiviert, abklären zu lassen, ob bei ihnen eine Lese-Rechtschreib-Störung vorliege oder nicht, sagt Expertin Monika Brunsting.
Heilen kann man Legasthenie nicht. Man kann trainieren, damit das Lesen und Schreiben für die Betroffenen etwas leichter wird. Und die Betroffenen haben oft eigene Tricks, mit denen sie sich im Alltag helfen können. Sebastian Steffen greift beim Verfassen von E-Mails und anderen Alltagstexten gern auf das Word-Korrekturprogramm zurück.
Er hat aber noch andere Mittel, die ihm helfen: Yoga zum Beispiel. Oder Atemübungen. Damit kann er den Stress lindern, den das Schreiben auslösen kann. Denn Schreiben und Lesen, das ist für ihn seit seiner Kindheit sehr negativ behaftet.
In bester Gesellschaft
Trotzdem ist Steffen Schriftsteller geworden. Damit steht er nicht allein. Es gibt einige Autorinnen und Autoren mit Legasthenie. Zum Beispiel der US-amerikanische Autor John Irving, international erfolgreich mit Titeln wie «Garp und wie er die Welt sah» und «Hotel New Hampshire».
2002 sagte er in einem Interview mit der «NZZ»: «Ich war Legastheniker und ein hemmungslos schlechter Schüler. Es gab nur zwei Orte, wo ich nicht als Versager dastand. Der eine war die Ringerhalle. […] Der andere Ort war English Writing. Jawohl, ich wollte schreiben lernen. Das war mein Traum.»
Auch die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Christie war Legasthenikerin. Und der britische Zoologe und Tierschützer Gerald Durrell, der immerhin 37 Bücher geschrieben hat: über Tiere und Zoohaltung, aber auch über seine Familie.
Im Vorwort des Romans «Meine Familie und andere Tiere» bedankt er sich bei all jenen, die ihm bei der Verwirklichung des Buches geholfen haben, vor allem bei seiner Frau, «die mir eine Freude bereitete, als sie bei der Lektüre des Manuskripts in schallendes Gelächter ausbrach, nur um mir hinterher mitzuteilen, dass es meine Rechtschreibung war, die sie amüsiert hatte».
Wer im Internet sucht, stösst schnell auf langen Listen mit Namen von erfolgreichen Literaturschaffenden, die alle mit LRS zu kämpfen hatten. Goethe soll Legastheniker gewesen sein, Hans Christian Andersen und Ernest Hemingway. Nicht zu reden von all den prominenten Personen, deren Metier nicht in erster Linie die Schriftsprache war und ist: Pablo Picasso und Michael Jackson, Ludwig van Beethoven und Mark Zuckerberg, Stephen Hawking und Steven Spielberg.
Zu den bekennenden Legasthenie-Betroffenen unter den Prominenten zählt der britische Koch Jamie Oliver. Die Küche habe ihn gerettet, lautet sein Credo. Und man könnte meinen, dass Rechtschreibung für einen Koch nicht unbedingt an erster Stelle steht. Doch Jamie Olivers internationaler Erfolg fusst zum Grossteil auf seinen Kochbüchern.
Mehr als 50 Millionen davon hat er verkauft und 2023 hat er auch noch ein Kinderbuch veröffentlicht. Es heisst «Billy und der geheimnisvolle Riese» und handelt von drei Freunden, die einen verzauberten Wald finden.
Wie Sebastian Steffen hat auch Jamie Oliver offenkundig Lust an Geschichten. Und am Geschichten erzählen.