Marion Vassaux hat den Traum, Tierärztin zu werden. Vassaux hat aber Dyslexie: Sie braucht mehr Zeit, um Fragen zu lesen oder einen Text zu verfassen. An Universitäten erhalten Studierende wie Marion Vassaux in der Regel einen Zeitzuschlag bei normalen Prüfungen.
Die 21-jährige Waadtländerin hatte so einen Zeitzuschlag auch beim Eignungstest für das Medizinstudium verlangt. Diesem müssen sich alle Anwärterinnen und Anwärter für den Arztberuf unterziehen, weil es weniger Studienplätze als Interessenten gibt. Deshalb ist an den meisten Schweizer Universitäten ein Numerus Clausus eingeführt worden – eine Zulassungsbeschränkung.
Unterstützt von Inclusion Handicap
Die Universität Bern hatte das Anliegen abgelehnt, mit Hinweis auf die Regeln von Swissuniversities, der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Schweizer Hochschulen. In einer selektiven Prüfung wie dem Eignungstest für das Medizinstudium könne der Nachteilsausgleich nicht fair und praktikabel umgesetzt werden, so die Begründung.
Vassaux zog den Fall mit der Unterstützung von Inclusion Handicap – dem Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz – ans Bundesgericht weiter. Strategische Prozessführung nennt sich dieses Vorgehen. Es ist vergleichbar mit dem Gang der Klimaseniorinnen durch alle Gerichtsinstanzen, bis hin zum Sieg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Minderheit sah Gefahr von Überkompensierung
Am Bundesgericht sorgte der Fall für zeitweise hitzige Diskussionen. Eine Minderheit war der Ansicht, dass durch einen Zeitzuschlag das eigentliche Ziel des Zulassungstests vereitelt werde: Nämlich Studierende unter Zeitdruck arbeiten zu lassen. Und dass die Gefahr einer Überkompensierung bestehe, in deren Folge Studierende mit Dyslexie wie Marion Vassaux bevorteilt würden gegenüber anderen Anwärterinnen und Anwärtern ohne diesen Zeitzuschlag.
Das sei nicht nachvollziehbar, entgegnete aufgebracht eine andere Bundesrichterin. Mit mehr Zeit werde nur der Nachteil durch die Leseschwäche ausgeglichen, es ergebe kein Vorteil. Eine Mehrheit der fünf Bundesrichterinnen und Bundesrichtern hiess die Beschwerde gut und wies sie an das Berner Verwaltungsgericht zurück. Dieses muss nun eine Expertise in Auftrag geben, die klären soll, ob der Test für den Numerus Clausus auch fair für alle gestaltet werden könnte – für Menschen mit oder ohne Handicap.
Dyslexie durch Medienberichte thematisiert
Mit dem heutigen Urteil hat sich bei der Zulassung für das Medizinstudium noch nichts verändert. Und es geht nur um die besonderen Eignungstests. Bei normalen Prüfungen im Studium wird Betroffenen der Nachteilsausgleich bereits gewährt.
Dennoch ist das heutige Urteil mehr als ein Etappensieg. Zum ersten Mal überhaupt wurde die heutige Urteilsberatung am Bundesgericht in die Gebärdensprache übersetzt. Dank vieler Medienberichte sind Marion Vassaux und das Handicap Dyslexie breit thematisiert worden.
Es ist einer der ersten grossen Fälle, mit denen Inclusion Handicap und seine Mitgliederorganisationen Urteile erwirken wollen, mit denen die Lebensumstände betroffener Personen verbessert werden sollen. Die Rechnung ist aufgegangen. Weitere Musterprozesse werden folgen.