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Situationships: So lieben wir heute
Aus Kulturplatz vom 26.06.2024.
Bild: getty images / UGC abspielen. Laufzeit 28 Minuten 12 Sekunden.

Lieber locker lieben? Situationship: Das Dating-Phänomen, das vielen Kummer bereitet

Wenn wir jemanden daten, stellt sich meist die Frage: Was wird da draus? Bei der Dating-Spielart «Situationship» ist die Beziehungszukunft sehr ungewiss. Ist sie Zeichen einer Zeit, in der wir uns nicht mehr festlegen wollen?

«Überall habe ich sie gesucht – und nirgendwo gefunden: die guten Männer.» Die SRF-«Deep Dating»-Moderatorin und Comedienne Gülsha Adilji ist seit zwei Jahren Single.

Nicht immer war diese Zeit lustig. Lachen über Dating-Geschichten will sie aber trotzdem: Mit ihrem Comedy-Programm «Gülsha lernt Liebe» steht sie ab November auf der Bühne. Es ist eine Art Best-of ihrer schlimmsten Dating-Geschichten. Ein Sujet der Show: die Situationship.

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Beziehung trotz Beziehungsangst? Gülsha Adilji in «Deep Dating»
Aus SRF Deep Dating vom 27.05.2024.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 20 Minuten 49 Sekunden.

Adilji selbst und ihr Freundeskreis fanden sich immer wieder in Situationships. Eine Beziehungsform, die sie an den Wilden Westen erinnert: «Es gibt keine Regeln, kein Commitment, keine Abmachungen. Man hat zwar die Vorzüge einer Beziehung, muss aber selbst nichts hineingeben.»

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Kurz erklärt: Situationship
aus 100 Sekunden Wissen vom 26.06.2024. Bild: imago images / Westend61
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 51 Sekunden.

Gemeinsam kochen oder Film gucken: klar. Zur Seite stehen, wenn es schwierig wird: eher nein. Das klingt kompliziert – und ist es für die Beteiligten meist auch.

Zeichen einer Zeit?

Die Situationship ist ein Kofferwort, das «Situation» und «Relationship» (englisch für Beziehung) in sich trägt. Der Begriff beschreibt eine Art lockere Beziehung, die im Jetzt gelebt wird. Was die Zukunft bringt, ist unklar. Beziehungsstatus: ungewiss.

Situationship hat keine Form. Es ist eine Nichtbeziehung.
Autor: Ole Liebl Video-Creator

2022 – in der Post-Corona-Zeit – trendete der Begriff auf Google. Für Ole Liebl, der sich als Autor und Video-Creator unter anderem mit Liebesdingen befasst, kein Zufall.

Die Distanz, die uns das Virus aufdrängte, löste bei vielen das Bedürfnis nach Nähe aus: «Trotz Kontakteinschränkung suchten viele Menschen nach Intimität. Viele suchten aber nach einem Beziehungsmodell, das man am Ende des Lockdowns schnell loswerden konnte», so Liebl.

Auf jemanden festlegen? Lieber nicht, in einer Krisen-Situation, die bald wieder Freiheit – auch in der Partnerwahl – versprach. Liebl hat seine eigene Definition der Situationship: «Es ist eine Beziehung, in der keine gemeinsamen Entscheidungen getroffen werden und die nicht über den Moment hinausgeht. Die Beziehung hat keine Form, keinen Begriff. Es ist eigentlich eine Nichtbeziehung.»

Nutzen und wegwerfen?

Die Situationship, so Liebl, könne in bestimmten Phasen eine passende Beziehungsform sein. «Wenn zwei Menschen Lust auf einen Sommer-Flirt haben, ist das natürlich nicht gleich toxisch.» Oft seien Situationships aber schmerzvoll. Vor allem dann, wenn Menschen «benutzt» würden.

Er sieht in der Situationship eine Konsequenz des Kapitalismus, der sich auch in unser Beziehungsleben eingeschlichen hat: «Es ist wie ein Geschäftsverhältnis. Man geht die Situationship ein, weil man ein bestimmtes Bedürfnis befriedigen möchte. Brauche ich die Situationship nicht mehr, beende ich sie.»

Liebespartner würden als Produkte wahrgenommen. Wer nicht mehr gebraucht werde, lande im Müll.

Liebl beruft sich dabei auf die berühmte Soziologin Eva Illouz, unter anderem Autorin der Bestseller «Warum Liebe endet» und «Warum Liebe weh tut».

Ihre These: Der Kapitalismus gefährdet die romantische Liebe. Statt uns auf jemanden einzulassen, würden wir heutzutage auf lockere Beziehungen setzen – und darunter leiden. Gefördert würde die Schnelllebigkeit unseres Liebeslebens durch das Online-Dating.

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Beziehungsstatus: Es ist kompliziert
Aus Bleisch & Bossart vom 30.05.2022.
abspielen. Laufzeit 24 Minuten 34 Sekunden.

Illouz nennt diese Beziehungen «negative Bindungen» – und meint damit konkret Affären, One-Night-Stands, Flirts und Co. In diese Bindungen, die unverbindlich sind, reiht sich auch die Situationship ein.

Wartet noch eine bessere Partie?

Guy Bodenmann, Professor für Psychologie an der Universität Zürich, Paartherapeut und Autor zum Thema Beziehung, weiss: Die Situationship ist kein wissenschaftlicher Begriff.

Immer wieder würden – vor allem in den sozialen Medien – solche Trend-Begriffe aus dem Nirgendwo auftauchen. Die Situationship würde er lieber «Partialship» nennen. Man lasse sich zwar ein – aber eben nur zu Teilen.

Bodenmann stellt fest, dass uns heutzutage im Beziehungsleben die vielen Optionen zu schaffen machen. Heute hätten wir die Qual der Wahl – und das mache es komplizierter, uns auf Beziehungen einzulassen.

Letztendlich gibt es immer Verletzungen.
Autor: Guy Bodenmann Paartherapeut

«Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir so viele Optionen, gerade auch durch die Dating-Plattformen. Deshalb stellt sich auch immer die Frage: Ist diese Partnerin gut genug für mich? Oder gibt es noch eine bessere Alternative?» Der Optimierungswahn sei ein Hindernis für verbindliche Beziehungen.

Bedürfnis nach Verbindlichkeit besteht

Interessant dabei: Auch wenn das Bedürfnis nach Verbindlichkeit je nach Lebensphase stark variieren könnte, sei es grundsätzlich auch heutzutage noch sehr gross.

«Menschen möchten eigentlich stabile, langfristige Partnerschaften. Investition in einen Menschen lohnt sich nur, wenn man weiss, dass etwas von Dauer ist. Sonst muss ich mich ständig wieder neu investieren, was sehr unbefriedigend und emotional kostspielig sein kann.»

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«Der Sex sagt viel über eine Beziehung aus»
aus Focus vom 13.02.2023. Bild: IMAGO / Addictive Stock
abspielen. Laufzeit 56 Minuten 47 Sekunden.

Gerade deshalb seien Beziehungsformen wie die Situationship für Beteiligte oft kompliziert – und schmerzvoll: «Es gibt eine Diskrepanz der Bedürfnisse, wenn sich die eine Person einlassen will und die andere nicht. Und letztendlich gibt es immer Verletzungen.»

Der Mensch, so Bodenmann, sei ein sensibles Wesen, dem man Sorge tragen müsse. «Diese Sorgfaltspflicht wird durch die Dating-Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, oft verletzt.»

Besser Freunde lieben?

Ole Liebl schlägt in seinem Buch «Freunde lieben» deshalb vor, in Sachen Intimität auch auf Freunde zu setzen. Die «Freundschaft Plus»: sein Gegenentwurf zur Situationship. Wieso?

«Freundschaften sind wahrscheinlich die verbindlichsten und stabilsten Beziehungen, die Menschen überhaupt eingehen können. Es sind Beziehungen, über die man redet. Und das ist ein krasser Gegensatz dazu, was eine Situationship meist ausmacht», so Liebl.

Gute Freunde flüchten nicht beim kleinsten Problemchen. Warum also nicht auch mit dem besten Freund im Bett landen? Liebl, der Zeit seines Beziehungslebens sexuelle Freundschaften pflegt, weiss: Das ist gewagt. Und auch nicht jedermanns Sache.

Viele wissen nicht, was gesunde Beziehungen sind.
Autor: Gülsha Adilji Moderatorin

«Ich sage nicht: Ihr alle müsste mit euren Freundinnen schlafen und dann wird die Welt zu einem besseren Ort. Um Gottes Willen, das wäre Stress pur», meint Liebl. Aber: Physische Zärtlichkeit dürfe in Freundschaften durchaus Platz haben.

Die Basics der Liebe lernen

Für Gülsha Adilji wäre die «Freundschaft Plus» eine Art Master-Class. Sie findet: Wir müssen in Beziehungsfragen zuerst an den Basics feilen. «Viele wissen nicht, was eine innige, sichere Bindung ist. Sie müssen zuerst lernen, was gesunde Beziehungen sind.» Und auch die Liebe zu sich selbst sei wichtig, um Beziehungen eingehen zu können.

Klingt fast schon ein wenig pathetisch und ernst aus dem Mund einer Comedienne. Den Humor hat Adilji aber auch im Liebes-Wirrwarr natürlich nicht verloren. «Mein aktueller Beziehungsstatus ist: Ich will nie wieder daten», sagt sie. «Aber dieser Status ändert sich auch im Viertelstundentakt.» Ob da bald die nächste Situationship ansteht?

Buchhinweise

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  • Ole Liebl: «Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen». Harper Collins, 2024.
  • Guy Bodenmann: «Mit ganzen Herzen lieben». Patmos, 2023.
  • Eva Illouz: «Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen». Suhrkamp, 2020.

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SRF 1, Kulturplatz, 26.6.2024, 22:25 Uhr.

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