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Nach Trump-Triumph Dystopien im Aufwind: Warum suhlen wir uns jetzt im Elend?

Dystopie-Klassiker wie «The Handmaid’s Tale» oder «1984» stürmen die US-Buch-Charts. Warum trenden Untergangsszenarien?

Über vierhundert Plätze hat «The Handmaid’s Tale» von Margaret Atwood nach der US-Präsidentschaftswahl in der Bestsellerliste von Amazon gutgemacht. Der Roman über eine US-Diktatur, in der Frauen unter anderem als Gebärmaschinen missbraucht werden, liegt neu auf Platz drei, wie die britische Zeitung «The Guardian» berichtet.

Person arrangiert Bücher auf einem Tisch.
Legende: «The Handmaid’s Tale» von Margaret Atwood wurde vor allem durch die gleichnamige Fernsehserie in breiten Kreisen berühmt. Nun erlebt das Buch einen weiteren Verkaufsschub. Getty Images / J. Countess

Auch viele weitere Bücher über Diktaturen und rechtsextreme Politik sowie über die Krisen von Demokratie und Feminismus sind in den US-Buch-Charts um mehrere hundert Plätze aufgestiegen, etwa das Sachbuch «On Tyranny» (Über die Tyrannei) des Historikers Timothy Snyder (8. Platz) oder George Orwells totalitäre Dystopie «1984» (16. Platz).

Warum tut man sich das an?

Es scheint, dass sich einige Unterstützerinnen und Unterstützer von Kamala Harris nach der krachenden Wahlniederlage in die Lektüre von Dystopien stürzen. Aber warum nur? Wenn die reale Zukunft schon düster aussieht, warum sollte man sich zusätzlich noch in fiktiven Untergangsszenarien suhlen?

Verstärkt das nicht noch das Gefühl von Weltschmerz und Zukunftsangst? Oder begreift man die Realität besser, wenn man die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Dynamiken mithilfe der Literatur nachvollzieht? Versteht man so, wie es nur so weit kommen konnte?

Und wer weiss, vielleicht hilft es, sich mit einer fiktiven Welt zu befassen, die man als noch schlimmer empfindet als die Realität. Vielleicht kann ein gewisser Masochismus auch guttun. Es soll ja nicht wenige geben, die bei Liebeskummer stundenlang melancholische Songs hören.

Sich abgrenzen?

Aber es steht ausser Frage, dass einem die pausenlose Beschäftigung mit schlechten Nachrichten und negativen Gedanken zusetzen kann. Im Sinne der psychischen Gesundheit muss man sich manchmal auch emotional abgrenzen, sich von der Weltlage abschotten können.

Diese Haltung bringt etwa die US-amerikanische Sängerin und Lyrikerin Patti Smith in einem Gedicht zum Ausdruck, das sie nach der Präsidentschaftswahl veröffentlichte. Der Anfang des Gedichts: «Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen wir uns zurückziehen müssen, nicht um uns zu verstecken, sondern um uns selbst zu heilen.»

Zu viel Abgrenzung wiederum kann aber auch in Realitätsflucht und Gleichgültigkeit übergehen – dann, wenn man gar nichts mehr an sich heranlässt. Und wer lehnt sich dann noch gegen all die Ungerechtigkeiten der Welt auf? Wer verhindert dann noch, dass all die Dystopien wahr werden? Ein Dilemma, in dem sich angesichts der aktuellen Weltlage viele wiederfinden.

Ein Ausweg: ins Handeln kommen

Wie kommt man raus aus der Frustration über die vielen Krisen auf der Welt und aus der weltschmerzigen Passivität? Eine Möglichkeit ist die Besinnung darauf, was wir selbst in der Hand haben. Was kann ich persönlich beeinflussen? Tatsächlich tut es gut, die Initiative zu übernehmen und das Gefühl zu bekommen, konkret etwas verändern zu können – auch wenn das nur im Kleinen ist.

Das mag angesichts der grossen Krisen auf der Welt mickrig erscheinen. Aber man darf weiterhin daran glauben, dass ganz viele kleine Veränderungen eine grosse Wirkung entfalten können. Und spüren, dass man in seinem Engagement und seiner Haltung nicht alleine ist. Auch wenn auf Platz eins der Amazon-Bestsellerliste neu die Autobiografie von Melania Trump steht.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Nachrichten, 8.11.2024, 16:30 Uhr.

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