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«Am Rande mittendrin»: «Surprise»-Verkäufer veröffentlicht Buch
Aus 10 vor 10 vom 08.05.2024.
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Nachwuchsautor mit 68 Die unglaubliche Story des «Surprise»-Verkäufers Urs Habegger

Ein Schicksalsschlag führte einen einstigen Abteilungsleiter in die Bahnhofsunterführung als Strassenverkäufer – und dann überraschend auf die Lesebühne.

«Du, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Gestern, als ich nach Hause kam, stand ein Karton mit der ersten Ladung meiner Bücher vor der Tür. Ich habe kein Auge zugemacht, so voll war ich mit Adrenalin.»

Urs Habegger erzählt und baut währenddessen seinen Verkaufsstand in der Bahnhofsunterführung Rapperswil auf. Ein etwas abgenutzter Einkaufwagen dient als Lager der «Surprise»-Hefte, welche er hier verkauft.

Ein Mann mit einem Magazin in der Hand steht in einer Unterführung, neben ihm ein Einkaufswagen.
Legende: Bis 2005 war der «Surprise»-Verkäufer in einer leitenden Position, dann nimmt sein Leben eine von mehreren unerwarteten Wendungen. SRF / Miriam Künzli

Am Griff des Wagens bringt er eine Sonnenblume aus Plastik an – sein Markenzeichen. Immer wieder verkauft er ihretwegen ein Heft. Tatsächlich ist die gelbe Plastikblume ein schöner Farbtupfer in der unwirtlichen, neonlichtgefluteten Unterführung.

«Sur-prise, Sur-prise» – klingt es nun. Nicht laut und nicht leise, gerade so, dass man Urs Habegger gut hört. Er wolle nicht, dass sich jemand belästigt fühle, sagt er.

Plötzlich bricht alles zusammen

Es ist ein Unglück, das Urs Habegger erst zum «Surprise»-Verkäufer und schliesslich zum Empfänger einer Kiste mit eigenen Büchern werden lässt. Im Jahr 2005, als er rund 50 war, leitete er eine Abteilung in einer Druckerei. Die Augenkrankheit Grauer Star trübt zwar seine Sicht immer mehr, doch er weiss: Diese gängige Erkrankung kann mit einer Routine-Operation geheilt werden.

Doch seit der Operation sieht Urs Habegger auf dem operierten Auge nur noch in die Weite. Mit dem zweiten Auge, das er nicht mehr operieren liess, sieht er nur in die Nähe. Es ist möglich, dass er eines Tages das Augenlicht ganz verliert.

Job weg, Geld weg?

Nach der misslungenen Operation muss Urs Habegger die Arbeit in der Druckerei aufgeben. Das schmerzt ihn, denn er liebt seine Arbeit. Bis zum Abteilungsleiter und Lehrlingsausbilder hatte er es gebracht. Doch nun kann er die Details, die er für den Druck kontrollieren sollte, nicht mehr sehen.

Ein älterer Mann mit einem Magazin in den Händen steht in einer Unterführung.
Legende: «Ich versuche, immer positiv zu bleiben.» Eine Einstellung, die sich für Urs Habegger bewährt hat. SRF / Miriam Künzli

Da der Lohn ausfällt, muss er den Gürtel eng schnallen, sehr eng. Denn Urs Habegger ist entschlossen, auf Sozialhilfe und IV-Unterstützung zu verzichten. «Das grösste Gut ist die Freiheit», sagt er und fügt an: «Das grösste Glück ist die Genügsamkeit.»

Urs Habegger fürchtet Demütigung und Entmündigung beim Gang aufs Sozialamt. Es hilft, dass er in diesem Moment bei seiner Schwester günstig ein Zimmer in deren Wohnung mieten kann.

Warum gehen Menschen nicht zur Sozialhilfe?

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Schätzungen zufolge verzichten in der Schweiz zwischen 30 und 40 Prozent der Menschen, die ein Anrecht hätten, auf Sozialhilfe.

Grund dafür sei meist, dass die Anspruchsberechtigten sich entweder schämten oder sie fürchteten, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Das sagt Carlo Knöpfel, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordostschweiz.

Das müsse sich ändern, denn das Recht auf Hilfe in Not sei in der Verfassung festgehalten. Für viele Menschen sei es ein zermürbender Stress, nie zu wissen, ob genügend Geld da ist, oder eben nicht. Gesundheitliche Folgekosten sind wahrscheinlich.

Deswegen fordert Carlo Knöpfel unentgeltliche Rechtsbeistände für Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Damit diese, in ihrer schwierigen Situation, jemanden haben, der ihnen zur Seite steht und sich für ihre Rechte einsetzt.

Zuerst zieht er als Strassenmusikant durch die Gegend, doch schnell merkt er: Das bringt nicht genug Geld ein. Verkäufer des Strassenmagazins «Surprise» zu werden, sieht er als letzte Chance, sich unabhängig das Leben zu finanzieren. Das ist sein grosses Ziel.

De Surprise-Verkäufer von Rapperswil

«Hoi Urs, wie gahts?» – «Hallo Gilles, guet, wie gahts de Chind? Händ er guet agfange?»

Unter die herzlichen Begrüssungen mischt sich das Gequietsche bremsender und anfahrender Züge. Die Betondecke der Unterführung vibriert, schnelle und langsame Schritte nähern sich, ziehen vorbei. Ein Heft will diesmal niemand kaufen.

Das steckt hinter den «Surprise»-Heften

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Legende: KEYSTONE / Peter Klaunzer

Der gemeinnützige Verein «Surprise» will Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt nicht Fuss fassen können, eine Arbeitsmöglichkeit bieten – und die Chance, eigenes Geld zu verdienen.

Die Verkaufenden können die Surprise-Hefte in einem Surprise-Büro gegen Vorauskasse beziehen und dann für 8 Franken verkaufen. Davon verdienen die Verkaufenden 3.70 Franken. 30 Rappen gehen in ihre AHV. Der Rest geht an die Redaktion, in der erfahrene Journalistinnen und Journalisten die Inhalte des Heftes produzieren.

Ziel ist es, dass die Verkaufenden ein hochwertiges journalistisches Produkt in den Händen haben, das man auch gerne liest. Vermeiden will man, dass die Hefte nur gekauft werden, um den Verkaufenden zu helfen. Die meisten von ihnen beziehen auch Sozialhilfe.

16 Jahre sind vergangen, seit Urs Habeggers erstem Arbeitstag als «Surprise»-Verkäufer. Die Arbeit ist hart. Oft steht Habegger von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends hier, sechs Tagen die Woche.

Wie viel er ungefähr verdient, will er nicht verraten. Geschätzt ist es in etwa so viel, wie er auch von der Sozialhilfe erhalten würde. Je nach Kanton sind das zwischen 1800 und 2200 Franken pro Monat.

«Ich habe alles, was es braucht»

Verkauft er eine Zeit lang sehr schlecht, beginnt er an seinem Lebensentwurf zu zweifeln. Dann zwingt er sich, an einen Rat seiner Mutter zu denken: «Nimm doch nicht immer alles so schwer», sagte sie ihm einst, als er noch Lehrling war.

Ein Mann mit Schiebermütze steht in einer Bahnhofsunterführung.
Legende: «Surprise» zu verkaufen, habe ihn reich gemacht, sagt Urs Habegger – nicht reich an Geld, sondern an Begegnungen und Geschichten. SRF / Miriam Künzli

Damals habe er gedacht, dass sie doch eigentlich recht habe. «Ich habe begonnen, an mir zu arbeiten. Ich versuche, immer positiv zu bleiben.» Das mag schönfärberisch klingen. Für Urs Habegger aber funktioniert das Konzept.

«Es geht mir gut, ich habe alles, was es zum Leben braucht und mehr. Ich habe ein Bett, einen eigenen Balkon, einen Computer, einen Stuhl, Bücher. Und ich kann in die Badi und dort ein Käffeli trinken.» Mehr brauche er nicht, sagt Urs Habegger. Arm habe er sich nie gefühlt. Vielmehr reich an Begegnungen, Freundschaften und Geschichten, die er jeden Tag zu sehen und zu hören bekommt.

Hefte mit dem Gesicht eines Mannes auf dem Cover liegen auf einem Thresen.
Legende: Urs Habegger erzählt die Geschichten, die das Leben schreibt und hat es damit aufs Cover der «Surprise»-Hefte geschafft, die er selbst verkauft. Sara Leuthold

Ein älteres Ehepaar erzählt ihm kürzlich, dass der Mann nicht habe lachen können, bis er seine Frau kennengelernt und sie es ihm beigebracht habe. Oder Habegger beschreibt die Begegnung mit einem Betrunkenen, der sich drohend vor ihm aufbaute und dann völlig überraschend ein Heft von ihm kaufte.

Geschichten wie diese hat Urs Habegger nun zu Papier gebracht: «Am Rande mittendrin» heisst sein Buch. Es ist eine Gesellschaftsbeobachtung aus der Sicht eines «Surprise»-Verkäufers – aktuell auf dem dritten Platz der Schweizer Sachbuch-Bestsellerliste.

Mit einer Portion Glück

«Isch s'Buech jetzt duss?» – «Ja, chunnsch a d’Vernissage?» So klingt es jetzt in der Unterführung Rapperswil. Dass er mit 68 Jahren noch zum Buchautor wird, war nicht abzusehen.

Geschrieben hat er bis vor einigen Jahren einzig einige Lieder. Zu verdanken ist das Buch einer Portion Glück und Urs Habeggers Fähigkeit, Chancen zu packen.

Audio
Urs Habegger: «Vom Strassenverkäufer zum Buchautor»
aus Kontext vom 31.05.2024. Bild: Keystone/PETER KLAUNZER
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2018 beschloss die Redaktionsleitung von «Surprise», eine Kolumne einzuführen, die von den Verkaufenden geschrieben wird. Ihre Themen und ihr Alltag sollten darin zur Sprache kommen. Da entdeckt Urs Habegger, dass er sehr gerne schreibt.

Erst Copy-Shop, dann Verlagsvertrag

Nach kurzer Zeit hat Habegger bereits so viele Texte geschrieben, dass sie nicht alle in «Surprise» publiziert werden können. Kurz entschlossen gestaltet der gelernte Schriftsetzer die Texte am Computer zu Heften, lässt diese im Copy-Shop vervielfältigen und verkauft sie in der Bahnhofsunterführung.

Die Leiterin eines Kulturclubs lädt ihn nach der Lektüre zu einer Lesung ein. Dort ist per Zufall auch die Kommunikationschefin des Schweizer Verlags elfundzehn. Sie ist begeistert von Urs Habegger. Später wird sie ihn anrufen: Ob er nicht vielleicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben? Kurz darauf ist der Vertrag unter Dach und Fach und «Am Rande mittendrin» wird im April 2024 veröffentlicht.

«Es ist eine Riesenfreude»

So erlebt Urs Habegger nun, mit 68, nochmals einen Lebensfrühling. Er reist von Lesung zu Lesung, von Vernissage zu Vernissage. «Stolz bin ich nicht», sagt Urs Habegger. «Stolz wäre das falsche Wort. Es ist einfach eine Riesenfreude. Nachwuchsautor mit 68. Das alles hätte ich in meinen anderen Leben wohl nicht erlebt.»

Ob er denn schon wisse, was er machen wolle, falls er mit dem Buch etwas Geld verdiene? Urs Habegger winkt ab. Darüber mache er sich nun wirklich keine Gedanken.

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 31.05.2024, 9:03 Uhr

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