Nicole Wittwer hat eine Metallbaufirma und einen kühnen Plan: Ihre Leute sollen weniger arbeiten und gleich viel verdienen.
«Es kann funktionieren», sagt die 36-Jährige, «mit den richtigen Leuten und guter Organisation». Die Herausforderungen seien aber grösser als gedacht: «Wir haben die Hürden unterschätzt. Manchmal frage ich mich, warum gerade wir diejenigen sein müssen, die diese Schneise schlagen.»
Vier Tage im Betrieb, drei Tage frei. Was banal klingt, wäre für die Bauwirtschaft eine Revolution. In keiner anderen Branche arbeiten so wenige Beschäftigte Teilzeit: 2021 waren es gut zehn Prozent. Im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in der Kultur oder in den sogenannten freien Berufen sind es zwischen 50 und 60 Prozent.
Testfall Teilzeit
Ein 80-Prozent-Pensum ist für viele Kopf- und Kreativ-Arbeiter fast schon Standard. Im Handwerk gelten dagegen andere Regeln. Wenn Wittwers Leute freitags die Treppe, die Veranda oder das Geländer nicht liefern, weil sie freihaben, kann das Haus nicht fertig gebaut werden. Der Termindruck ist hoch, die Löhne sind mit gut 6000 Franken brutto mittelmässig. Das Pensum zu reduzieren, liegt da oft nicht drin.
Bei der Viertagewoche setzt der Luzerner Metallbaubetrieb nun auf ein 90-Prozent-Pensum. Wittwer propagiert die kürzere Woche nicht nur, weil sie will, sondern vor allem, weil sie muss.
Wettbewerb um Talente
Gute Handwerker sind gefragt. Wegen des Fachkräftemangels müssen sich die Firmen eher um die fähigen Mitarbeiter bemühen als umgekehrt. Die normale, aufgrund der Marktmechanismen zu erwartende Reaktion auf den Fachkräftemangel wäre eine Anhebung der Löhne: Das begehrte Gut, die Fachkraft der Metallbauer, würde «teurer».
In diesem Bieterwettbewerb kommt ein KMU schnell an seine Grenzen. Sie könnten nicht ständig die Löhne erhöhen, meint Nicole Wittwer. Darum bietet ihr Betrieb das andere begehrte Gut – mehr Freizeit. Der Deal: in vier Tagen 90 Prozent arbeiten und dafür 100 Prozent Lohn erhalten.
Trend zur kurzen Woche
Das Vier-Tage-Modell wird in diversen Ländern erprobt. In Schweden, Belgien und Grossbritannien laufen derzeit Versuche. Island macht es bereits möglich, und auch in der Schweiz gibt es einzelne Beispiele.
Allerdings ticken die Menschen in der Schweiz etwas anders: «Wenn Sie hier die Leute fragen, ob Arbeit für sie wichtig sei, sagt eine grosse Mehrheit ‹auf jeden Fall›», erklärt der Organisationspsychologe Johann Weichbrodt von der Fachhochschule Nordwestschweiz. «In Grossbritannien sagt das kaum jemand.»
Weichbrodt erforscht die Veränderungen der Arbeitswelt und macht drei Trends aus: «Die Menschen wollen erstens mehr Flexibilität, zweitens sind ihnen zunehmend auch andere Dinge im Leben wichtig, und drittens wollen sie mehr Sinnhaftigkeit.»
Er findet es bemerkenswert, wenn nun auch Branchen neue Arbeitsmodelle erproben, in denen die Grenzen für Flexibilität eng gesteckt sind: «Es ist ein Fortschritt, wenn die Menschen mehr Wahlmöglichkeiten haben. Das Vier-Tage-Modell kann eine solche Möglichkeit sein. Aber es funktioniert nicht für alle.»
Chrampfer im Dichtestress
An vier Tagen ein 90-Prozent-Pensum zu leisten, heisst primär Verdichtung: Die Arbeitstage sind länger, die Arbeit intensiver.
Das spricht belastbare Leute an – und die Forschung gibt ihnen recht: «Es spricht einiges dafür, dass wir durch eine Verdichtung der Arbeit produktiver werden», so Johann Weichbrodt. «Allerdings kommen wir in den Grenzbereich menschlicher Leistungsfähigkeit. Untersuchungen zeigen, dass die Konzentration ab neun Stunden nachlässt und Fehler häufiger werden.»
Auf dem Bau und an der Werkbank kann das fatale Folgen haben. Bau-Unternehmerin Wittwer weiss um die Gefahr: «Klar haben wir das im Auge! Wir begleiten die Leute mit einem Monitoring, während der Pilotphase sowieso. Nicht, dass uns einer vom Gerüst fällt.»
Die Pionierin und ihr Pilotprojekt
Wittwer Metallbau hat die Viertagewoche letztes Jahr im Spätsommer eingeführt. Zunächst probeweise für zwei Monate, «um zu schauen, was funktioniert und was nicht», erzählt Nicole Wittwer.
So hätten sie gemerkt, dass sie die Arbeitstage durchgetakteter organisieren müssten, zum Beispiel bei den Fahrten: «Wir mussten koordinieren, wann die Fahrzeuge wo sind, damit alle Lieferungen rechtzeitig von der Werkstatt zu den Baustellen kommen.»
Sie seien dann nochmals über die Bücher. Ab Anfang 2022 galt das neue Modell.
Nicole Wittwer führt den Familienbetrieb gemeinsam mit ihrem Mann in zweiter Generation. Er wächst stetig. Die Idee mit der Viertagewoche hätten sie schon Ende 2019 gehabt, erinnert sich Wittwer. Doch dann kam Corona. «Letztes Jahr, als wir wirklich Mühe hatten Leute zu finden, wurde es mit der Viertagewoche konkret.»
Die meisten im Team hätten erst gestaunt und dann Geschmack daran gefunden, erinnert sie sich. Allerdings bringen Wittwers Leute ideale Voraussetzungen mit: Von den 35 Mitarbeitern – alles Männer – ist kaum einer über 40 Jahre alt.
Jung, fit, ungebunden
Denn so attraktiv das Vier-Tage-Modell ist, es hat auch Schattenseiten: «Es spielt jenen in die Hände, die sowieso schon gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben», so Organisationspsychologe Weichbrodt. «Wer jung ist, viel leisten kann und will, fährt gut damit. Alle anderen haben das Nachsehen.»
Alle anderen – das wären ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber auch jene, die bei Neun-Stunden-Tagen wegen familiärer Verpflichtungen nicht mithalten können.
Länger weg, aber öfters zu Hause
Darum sei das Vier-Tage-Modell in Vereinbarkeitsfragen ein Rückschritt, findet der Arbeitspsychologe: «Solche Arbeitszeiten bedeuten, dass jemand anderes die Arbeit zu Hause und mit den Kindern übernimmt – und zwar von Montag bis Donnerstag, unter der Woche also praktisch immer.»
Andererseits können in einer Branche, in der bislang sowieso Vollzeit gearbeitet wurde, durchaus neue Möglichkeiten entstehen. Bei Wittwer Metallbau wurden jüngst zwei Mitarbeiter zum ersten Mal Vater – just, als die Viertagewoche eingeführt wurde. Beide Männer haben den freien Freitag für sich und ihre neue Rolle entdeckt.
Trotz Hochleistung im Hintertreffen
Wittwers Metallbau lief derweil auf Hochtouren, an vier Tagen und von früh bis spät. Eine neu eingeführte App half bei der Logistik, die Mitarbeiter waren motiviert und genossen die langen Wochenenden.
Und doch kamen sie mit der Arbeit kaum nach. In den ersten Wochen des Jahres blieben sie noch einigermassen im Zeitplan, erinnert sich Nicole Wittwer. Aber im Frühling hätten sich die Probleme zu häufen begonnen.
Knackpunkt blieb die Effizienz: «In vier Tagen fast so viel hinzubekommen wie in fünf – da muss man schon unheimlich Gas geben. Es muss laufen wie am Schnürchen.» Denn Handwerk bleibt Handwerk. Viel Zeit holt man durch bessere Organisation und schlankere Abläufe nicht heraus.
Stau auf dem Bau
Manchmal hatten sie auch einfach Pech. Ein Facharbeiter fiel wochenlang aus, weil sich der Hobby-Hockeyaner erst bei einem Spiel eine Gehirnerschütterung geholt und bei einem späteren Match den Daumen gebrochen hatte. Andere mussten wegen Covid in Isolation oder Quarantäne.
Gleichzeitig stauten sich die Aufträge und die Kunden wurden ungeduldig. Als dann der Ukraine-Krieg die Lieferketten unterbrach, wurde es wirklich eng. Ein Viertel aller Stahlimporte in die Schweiz stammt aus der Krisenregion. Auch Aluminium und andere Metalle werden oft aus der Ukraine und aus Russland importiert.
Nun stockten die Lieferungen und stiegen die Preise. Die abgezirkelte Planung des Luzerner Metallbaubetriebs geriet völlig durcheinander.
Mach mal Pause
«Unzufriedene Kunden, gestresste Mitarbeiter – das kann’s nicht sein», bilanziert Wittwer die strengen Wochen im Frühling und Frühsommer: «Ende Juni mussten wir die Notbremse ziehen. Wir haben das Projekt sistiert.»
Bis Ende August wird bei Wittwer Metallbau jetzt wieder an fünf Tagen gearbeitet. «Danach drehen wir nochmals eine Runde im Team, hören, was die Leute finden. Und dann entscheiden wir, wie es weiter geht.»
Der kühne Plan vom weniger Arbeiten erwies sich bei der Umsetzung schwieriger als angenommen, wobei die Umstände sicher dazu beigetragen haben. War’s das also mit dem Traum von der Viertagewoche? Nicole Wittwer zögert: «Eigentlich möchten wir am Modell festhalten – weil wir es gut finden.»
Doch bei den Kunden sei es jedes Mal eine Herausforderung. Die Auftraggeber reagierten skeptisch, wenn sie vom freien Freitag hörten. «Da frage ich mich schon, ob unbedingt wir die Ersten sein müssen. Von mir aus könnten auch andere vorgehen – und wir springen auf den fahrenden Zug auf.»
Arbeiten, um zu leben, anstatt leben, um zu arbeiten
Pionierinnen haben es nicht leicht, in der knallharten Bau-Branche sowieso nicht. Dennoch dürfte etwas hängenbleiben von den Versuchen, die Arbeitswelt flexibler, lebenswerter und attraktiver zu machen.
Vielleicht ist die Viertagewoche nicht immer die Lösung. Vielleicht gäbe es andere Modelle. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben es in der Hand. Denn der Fachkräftemangel hilft ihnen, ihre Wünsche und Ideen durchzusetzen.
Viele der jüngeren Generationen haben andere Ideen vom Arbeiten als ihre Eltern. Früher oder später kommt das auch auf dem Bau zum Tragen. So wie bei den zwei Mitarbeitern von Wittwer Metallbau, die kürzlich Väter wurden: Sie arbeiten weiterhin nur an vier Tagen. Auch wenn das Modell sistiert wurde, lassen sich die beiden den Papi-Tag nicht mehr nehmen.