«Wenn die Zeiten hart sind, kann uns nur die Ekstase retten.» Dieser Satz ist auf dem Einband des neu erschienen Buches «Berauscht der Sinne beraubt: Eine Geschichte der Ekstase» von Racha Kirakosian zu lesen.
Eine starke These. Aber stimmt sie wirklich? Aktuell sind die Zeiten zappenduster – und trotz des Trends zu mehr Askese geben sich viele nach wie vor dem substanzinduzierten High hin.
Alkohol- und Drogenrausch
16.4 Prozent der Menschen in der Schweiz tranken 2022 missbräuchlich Alkohol, das heisst, regelmässig zu viel oder zu oft. 2023 verstarben rund 192 Menschen drogenbedingt, wobei das nur die unmittelbaren Todesfälle ausweist. Wenn die Folgen von Alkohol dazugezählt würden, wäre die Zahl signifikant höher.
Was sucht der Mensch im Rausch, zumal im drogenbasierten, und weshalb nimmt er dafür wissentlich solche Gefahren in Kauf? Darauf gibt es unterschiedliche Antworten.
Eine davon findet sich im Film «Der Rausch» von Thomas Vinterberg von 2020 mit Mads Mikkelsen in der Hauptrolle. Der Plot geht der Frage nach, ob es sich mit einem Dauerpegel von 0.5 Promille besser lebt.
Die Menge macht’s?
Die Idee geht auf eine These des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud zurück: Er meint, der Mensch komme mit einem zu geringen Blutalkoholwert zur Welt.
Die Protagonisten des Films profitieren tatsächlich davon, ständig ein bisschen betrunken zu sein. In diesem euphorisierten Zustand sind sie mutiger, kommen aus sich heraus, sind rundherum beliebter und geistig leistungsfähiger. Vorerst jedenfalls.
Dem Alltag entfliehen
Das Experiment gelangt an einen Kipppunkt, als es darum geht, diesen Zustand zu halten und dennoch nicht dem übermässigen Trinken zu verfallen. Das liegt auf der Hand, denn im Rausch geht es gerade nicht um den viel besagten Mittelweg und die Einebnung.
Vielmehr verspricht die Ekstase das Ausbrechen aus dem Alltag. Sie lässt uns unser als beschwerlich empfundenes Ich zwischenzeitlich zurücklassen – zugunsten einer verrückteren Version unser selbst. Alles in der leisen Hoffnung, dass sich eigentlich genau dort in dieser ekstatischen Selbstbegegnung das wahre Ich und womöglich die Rettung aus dem zähen Alltag verbirgt.
Ausserkörperliche Erfahrung
Ekstase ist beileibe nicht nur Drogenkonsum, sondern kann verschiedentlich hervorgerufen werden. Durch einen Stadionbesuch bei einem Fussballspiel, orgiastischen Sex, ausgelassenes Tanzen am Wochenende oder Musikgenuss.
Auch religiöse Rituale und Meditation oder Selbstgeisselung können zu ekstatischen Höhenflügen führen.
Ist das «Ausser-Sich-Sein», das «Aus-Sich-Heraustreten», was Ekstase dem griechischen Wortsinn nach bedeutet, also ein probates Mittel, um den Zustand der Welt zu ertragen? Ein Hilfsmittel, um all das Übel abzufedern, wie das Eingangszitat «Wenn die Zeiten hart sind, kann uns nur die Ekstase retten» nahelegen möchte?
Der Rausch sei jedenfalls so etwas wie ein Sehnsuchtsort, erklärt die Mittelalterforscherin Racha Kirakosian.
Dass in ihrem Buch zur Geschichte der Ekstase Drogen genauso vorkommen wie der Tanz, Sadomasochismus oder Meditation, zeigt, wie vielfältig die Welt des Rausches und damit die Sehnsüchte der Menschen sind.
Der Rausch als Grundlage der Zivilisation?
Egal wie die Ekstase aussieht: Sie dient nicht nur dem Eskapismus, also der Realitätsflucht. «Es gibt in der Ekstase ein gesellschaftskonstituierendes Moment», erklärt Racha Kirakosian.
Sie muss also auch als kulturelle Technik zur Transformation unserer Gesellschaft, gemäss einigen Forschenden gar als Grundlage der Zivilisation, gesehen werden. Denn Rausch stiftet Verbundenheit. Im höchsten Fall sogar mit Gott.
Religiöse Visionen
In Kirakosians Buch wird deutlich: Die Ekstase ist das Mittel der Wahl, um Gottesnähe zu erfahren. In der Antike hätten ekstatische Momente als Ereignisse gegolten, in denen der Mensch mit dem Göttlichen in Kontakt tritt. «Die vorherrschende Vorstellung war, dass besonderes und wichtiges Wissen auf diese Weise zum Menschen durchdringen kann», so Kirakosian.
Man denke nur an Saulus, der durch eine Lichtvision und das Hören von Jesu Stimme zu Paulus wurde. Vom Christenverfolger zum Missionar – die Ekstase macht’s möglich. Was uns heute als psychisch krank erscheinen mag, kann vor Jahrhunderten eine hoch angesehene, ehrenwerte religiöse Praxis gewesen sein, erklärt Mittelalterforscherin Kirakosian.
Rebellische Nüchternheit
Allerdings muss es bei der Ekstase nicht immer so hoch hergehen. Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller spricht von einer Ekstase der Nüchternheit und verzichtet bewusst auf jeglichen drogeninduzierten Rausch.
Ekstatische Erfahrungen könne er beim Bodybuilding oder im Moshpit erleben – also dem Kreis, der sich etwa bei Hardcore-Konzerten vor der Bühne bildet und in dem man intensivst tanzt, zuweilen gar ineinander stürzt: «Ich kaufe mir die Ekstase nicht ein, indem ich mir eine Pille einwerfe, sondern hole sie mir durch solche Konzerterlebnisse.»
Jörg Scheller lebt «straight edge». Das ist eine Bewegung, die Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre aus dem Punkrock hervorging. «Da wandten sich Punks gegen den Drogenmissbrauch und versuchten, durch Askese eine andere Form von Intensität zu finden», erklärt Scheller.
Das Ziel: handlungsfähig zu sein und sich dadurch gegen die Konsumkultur, den Kapitalismus und die Mehrheitsgesellschaft auflehnen zu können. Man erhofft sich also, durch Nüchternheit rebellischer und durchsetzungsstärker zu werden.
Virgin Mojito? Selbstverständlich!
Rebellion durch ekstatische Askese: Das klingt sehr zeitgenössisch. «Sober Curious», wörtlich «nüchtern neugierig», heisst eine Bewegung, die sich in den 2010er-Jahren zu formieren begann und bis heute aktiv ist.
Tatsächlich ist der tägliche Alkoholkonsum seit der Coronapandemie gesunken und ein Blick in die Getränkekarte von hippen Zürcher Bars zeigt: Man muss als Abstinenzler nicht mehr zu Hause bleiben, sondern kann bei Dämmerlicht selbstbewusst am farbenfrohen Virgin-Drink nippen.
Kann die Askese ihren Biss behalten, wenn sie so zum Mainstream wird? Darauf angesprochen meint Jörg Scheller: «Ich frage mich immer, warum die Leute verzichten. Geht es nur darum, dass man gesund ist und 90 Jahre alt wird, dafür aber bloss Randensaft trinkt? Das ist für mich erstmal noch keine Sinnperspektive.» Scheller nennt das Gesundheitsspiessertum.
Es gehe dabei nicht um eine kritische Distanz zur Mehrheitsgesellschaft, sondern darum, als Individuum Kalorien zu zählen und ein wohlüberlegtes, durchkalkuliertes und vernünftiges Leben zu führen. Bei dieser Selbstoptimierung bleibt von Intensität und Ekstase keine Spur. «Da gehe ich lieber ins Moshpit und hole mir ein blaues Auge», so der Kunstwissenschaftler.
Alles fliesst – Erlösung im Flow?
Wo also erleben wir in Zeiten von Schrittzählern, Smart Watches und Kalorienkontrolle noch Intensität und Ekstase? Racha Kirakosian ist aufgefallen, dass Ekstase-Erzählungen aus dem Mittelalter heutigen Beschreibungen von sogenannten Flow-Zuständen ähneln.
Geprägt hat diesen Begriff der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi. Er bezeichnet einen Zustand, in welchem man sich einer Tätigkeit widmet, die einen komplett absorbiert und bei der man nichts anderes wahrnimmt.
Man ist nur noch Medium und etwas fliesst durch einen hindurch: «Das ist eigentlich eine inspirierte Ekstase. Genau so beschreiben es auch Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen, wenn sie ihren Schreibauftrag bekommen», so Kirakosian.
Das Resultat dieser Betätigung: euphorisches Glücksempfinden, Ich-Verlust, das Gefühl von Ewigkeit im Augenblick. Vollkommen vergessen, was rundherum passiert. Wird das unsere Rettung sein in der aktuell so verrückten Weltlage?
Wahrscheinlich nicht. Doch weil der Flow so schön, aber auch unheimlich effizient ist, gibt es inzwischen sogar Flow-Coaches, die mit 500-facher Leistungssteigerung werben. Mit Ekstase zur Selbstoptimierung also. Da bleibt der Zauber des entrückten Zustands aus.