Der italienische Mafiaexperte Roberto Saviano ist an Leib und Leben bedroht, seit er über die kriminellen Machenschaften und Machtstrukturen der Mafia schreibt. Er nennt Namen und Netzwerke, auch in seinem neuen Buch «Treue, Liebe, Begehren und Verrat – Die Frauen in der Mafia».
Damit eröffnet er Mitte März das Literaturfestival lit.Cologne. Über 800 Menschen drängen sich an diesem kalten Abend ins Festhaus Flora im Botanischen Garten in Köln. Doch der Einlass dauert, bis alle Mäntel und Rucksäcke an der Garderobe deponiert sind und die Personenschützer in Zivil im Festsaal Position bezogen haben.
Die Anspannung im Saal lockert er gleich zu Beginn der Lesung: «Ich weiss ja, Sie sind insgeheim alle Italiener.» Saviano zählt auf eine grosse italophile Fangemeinde. An diesem Abend spricht er darüber, wie die Mafia die emotionalen und intimen Beziehungen durchdringt und die Rollen bestimmt, die die Frauen in der kriminellen Organisation einnehmen.
Mutterschaft und Macht
Diese Rollen dokumentiert er in seinem Buch anhand von realen Fallgeschichten aus den letzten 40 Jahren. Dabei stützt er sich auf Mafiaprozesse, die er als Journalist im Gerichtssaal verfolgt hat, auf Urteilsbegründungen, auf Gespräche mit Ermittlern und Kronzeuginnen.
Frauen in der Mafia seien mit einem Komplex an spezifischen Erwartungen konfrontiert. Dazu gehöre, dass sie Kinder gebären sollen, um die Zukunft der kriminellen Organisation zu sichern. Eine schwangere Frau wird zur Trophäe eines Mafiosos. Kinderlosigkeit bleibt als Makel am Paar hängen.
Als Beispiel rollt der Autor die Lebensgeschichte von Vincenzina Marchese auf. Aufgewachsen «im Dunstkreis der Mafia», heiratete sie 1991 Leoluca Bagarella, einen weltweit gesuchten Boss der Cosa Nostra. Bis zu seiner Verhaftung 1995 stand er auf der Interpol-Fahndungsliste der gefährlichsten Verbrecher.
Damals erlitt Marchese mehrere Fehlgeburten: «Sie fühlte sich so unzulänglich, dass sie sich umgebracht hat», sagt Saviano. Denn ein Mafiaboss mit einer unfruchtbaren Ehefrau verliere in den Augen des Clans an Macht.
Loyalität als oberstes Gebot
Gefühle und Sex würden instrumentalisiert, um die Herrschaft der Mafia zu festigen. So werde von Frauen auch erwartet, dass sie ihre Kinder in den Clan einbinden. Diese sollen als Erwachsene die passenden Personen heiraten und Berufe wählen, die der kriminellen Organisation nützlich sein können. Der Sohn des Bosses müsse heute nicht mehr unbedingt ebenfalls Capo werden. Mütter würden stattdessen vermehrt dafür sorgen, ihn zum Anwalt, Arzt oder Politiker ausbilden zu lassen, um ihn vordergründig «mit einer weissen Weste» auszustatten.
Das Leben von Frauen in der Mafia-Familie sei mit grossen Belastungen verbunden, etwa wenn Angehörige umgebracht werden oder spurlos verschwinden. Oft würden solche Fälle nicht einmal aufgeklärt. Saviano sagt, viele Frauen hielten dies nur dank eines exzessiven Konsums von Psychopharmaka aus.
Von den Frauen in Mafia-Familien werde absolute Verschwiegenheit und unbedingte Loyalität erwartet. Das bedeute: Keinen Verrat zu begehen, den Willen der anderen zu kontrollieren und die Codes der Macht weiterzugeben. «Ohne Loyalität gibt es keine Mafia», konstatiert Saviano.
Frauen erklimmen die Karriereleiter
Der italienische Journalist schreibt den Frauen in der Mafia aber nicht nur traditionelle Geschlechterrollen zu. Frauen seien in den letzten 30 Jahren in der Hierarchie der kriminellen Organisation aufgestiegen, vor allem in der neapolitanischen Camorra: «Frauen haben hier im Drogenhandel mit Südamerika eine zentrale Rolle übernommen. Sie stehen heute an der Spitze der grossen Kartelle.»
Frauen würden oft die Befehlsgewalt über das kriminelle Geschäft übernehmen, wenn der Ehemann umgebracht worden ist oder im Gefängnis sitzt. Saviano stellt dabei einen Unterschied zu Männern fest: Zwar würden auch die Frauen als Stellvertreterinnen massive Gewalt ausüben und Mordaufträge erteilen, aber sie vermieden es, selbst zur Waffe zu greifen.
Neben den Frauen, die in der organisierten Kriminalität immer häufiger die Führung übernehmen, gebe es heute aber auch jene, die nicht mehr bereit seien, die Erwartungen zu erfüllen. Sie brechen das Schweigegebot, sagen gegen den Clan aus, in der Hoffnung, selbst Strafminderung zu erhalten und in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Die Bedeutung der Kronzeuginnen wachse, sagt Saviano. Denn die Justiz gehe von der Voraussetzung aus: «Die Frauen wissen alles.»
Bis die Loyalität bröckelt
Saviano hat für seine Recherchen mit zahlreichen Kronzeuginnen gesprochen, etwa mit Rosa Di Fiore aus Apulien, die heute unter einem anderen Namen lebt. Ihre Eltern arbeiteten in den 1980er-Jahren in der Schweiz. Als die Familie in die Heimat zurückkehrte, verliebte sie sich in Pietro Tarantino. Der Abkömmling einer Mafia-Familie umwarb sie, holte sie mit dem Mofa von der Schule ab. Rosa schlug die Bedenken ihrer Eltern in den Wind. Sie heiratete ihn und stieg in den Handel mit Heroin und Kokain ein.
Die Gespräche mit Kronzeuginnen seien sehr aufwühlend, berichtet Saviano: «Ich sehe, dass sie zittern, wenn sie von ihrem früheren Leben erzählen. Ich spüre oft, dass sie in der neuen Lebensphase aufrichtig sind, zugleich aber auch nostalgisch angesichts des immensen Reichtums und der Macht, die sie früher hatten.»
Kronzeuginnen würden einen hohen Preis zahlen, indem sie unter einer neuen Identität in Norditalien oder in einem anderen Land leben müssten. Ihre Herkunftsfamilien dürften sie nicht mehr sehen: «Sie führen alle ein verzweifeltes Leben. Viele von ihnen zeigen Reue, nicht wegen eines moralischen Dilemmas, sondern weil sie Angst haben, zu sterben.»
Der Preis der Aufklärung
Als Journalist, der seit 20 Jahren im Feld der organisierten Kriminalität recherchiert, muss sich auch Saviano bedeckt halten. Er ist auf Polizeischutz angewiesen und führt ein abgeschottetes Leben: «Es bedeutet, dass du alles, was du tust, in einem Versteck tust, dass du über all deine Bewegungen im Voraus entscheiden und deine Gefühle im Zaum halten musst. Es bedeutet, dass du dich davor fürchtest, deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, weil du weisst, dass dein Handlungsspielraum physisch eingeschränkt ist.»