Manchmal ist uns einfach nur zum Heulen zumute. Wir werden verlassen oder finden uns wieder am Grab eines geliebten Menschen, wir fühlen uns als Versager oder einsam oder sind mit einer schweren Diagnose konfrontiert. Die einen stecken dann den Kopf in den Sand oder wursteln sich durch, andere suchen Hilfe in einer psychologischen Praxis oder bei einem Life-Coach.
Seit geraumer Zeit mischen auch philosophische Ratgeber und Praxen den Markt auf. An der Universität Bern ist sogar ein Studiengang in «Philosophical Care» geplant – analog zu religiösen oder spirituellen Seelsorge-Angeboten. Doch wie soll und kann Philosophie helfen, sicherer durch stürmische Zeiten zu navigieren?
Philosophie ist mehr als ein «Lifehack»
Eines ist klar: Einer schweren Depression kommt man nicht mit einer philosophischen Lektüre bei. Und wer simple «Lifehacks» als Philosophie verkauft, mag zwar etwas von Marketing verstehen, weil damit seichte Weisheiten als Wissenschaft geadelt werden. Mit Philosophie hat das meist wenig zu tun.
Denn in erster Linie ist sie die Kunst des genauen Nachdenkens. Besonders trostreich klingt das auf den ersten Blick zugegeben nicht.
Der Philosoph Kieran Setiya, Professor am renommierten MIT in Boston in den USA, ist dennoch der Ansicht, philosophische Denkimpulse könnten in schweren Zeiten hilfreich sein. Seine zentrale Idee: Auf Schwierigkeiten im Leben können wir nur dann passend reagieren, wenn wir möglichst genau zu erfassen versuchen, worin sie bestehen. Bereits im exakten Beobachten liegt nämlich eine Quelle von Trost.
Das ist unmittelbar einsichtig, wenn wir daran denken, was uns am meisten hilft, wenn wir uns in grosser Verzweiflung an einen Freund wenden: Die Floskeln «Das wird schon wieder!» oder «Alles wird seinen Sinn haben», lassen uns meist noch einsamer und unverstandener zurück.
Wenn jemand jedoch aufmerksam zuhört und signalisiert, «ich höre dich und sehe deinen Schmerz», kann das Gespräch tröstlich sein. Genauso können das Selbstgespräch oder eben das sorgfältige Nachdenken dazu führen, dass wir uns eingestehen, dass wir gerade im Dunkeln stehen, und uns selbst in unserem Hadern verstehen und akzeptieren.
Keine emotionale Verpanzerung
Anders als die allermeisten Tiere werden wir Menschen schliesslich nicht nur von Emotionen überrollt, sondern können uns denkend zu ihnen verhalten. Die stoische Philosophie predigt in ihrer modernen Ausprägung jedoch Weitergehendes: Man solle sich gegen negative Gefühle ganz verwahren, bis hin zur emotionalen Verpanzerung.
Das ist jedoch nicht, was Setiya empfiehlt. Im Gegenteil: Meist haben negative Gefühle durchaus ihre guten Gründe. Es geht nicht darum, Enttäuschung oder Trauer ruhigzustellen, sondern ihre positiven Korrelate zu sehen.
Wer weint, weil er oder sie verlassen wird, hat wirklich geliebt. Wer hadert, dass eine Prüfung misslungen oder ein Projekt abgelehnt wurde, hat sich mit Herzblut einer Sache verschrieben. Wer Schmerzen hat, wird sich seines Körpers bewusst – ein Körper, der keine Maschine ist, sondern ein fragiles Gehäuse, dessen Verletzlichkeit wir oft verdrängen.
Das gute Leben ist nicht immer glücklich
Man darf diese Gedanken auch nicht mit positivem Denken verwechseln oder mit weltlichen Theodizee-Manövern, die behaupten, dass jede Unbill ihren Zweck habe. Setiya pocht vielmehr darauf, das glückliche Leben nicht mit dem guten Leben zu verwechseln. Wer in erster Linie nach Glück strebe und stets auf der Sonnenseite des Lebens stehen wolle, würde sich immunisieren gegen Trauer, Leid und Schmerz.
Ein gutes Leben ist Setiya zufolge aber eines, das in der realen Welt stattfindet. Ein Leben, in dem wir uns verschenken und Ablehnung riskieren, ein Leben, in dem wir die Scheuklappen ablegen und die grosse Sache wagen, auch wenn vielleicht der Absturz droht. Zu diesem realen Leben gehört es auch, empfänglich zu bleiben für Unrecht, das anderen widerfährt.
Raus aus dem «Grand Hotel Abgrund»!
Denn beim Nachdenken über das eigene Leiden stehenzubleiben, ist nicht, was Setiya vorschwebt. Vielmehr schliesst er an die Kritik des Philosophen Georg Lukács an, der seinem Zeitgenossen Theodor Adorno vorwarf, «das Grand Hotel Abgrund» bezogen zu haben: Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zwar zu durchdenken und in hehren Tönen theoretisch anzuprangern, aber letztlich in der Hotelsuite des Elfenbeinturms zu verharren und nicht praktisch tätig zu werden.
Vor allem aber besteht der erste Schritt zur Selbsthilfe oftmals darin, sich für eine Sache zu engagieren, die über das eigene enge Leben hinausweist und das Kreisen um die eigene Nasenspitze beendet.
Mit der Idee Nachdenken helfe gegen Krisen, meint Setiya also keineswegs, sich im Grübeln zu verlieren und im Selbstmitleid zu suhlen. Letztlich hat für ihn ein gutes Leben, so lapidar es klingt, vor allem mit dem Leben zu tun. Es beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der Realität, unabhängig davon, ob sie einen traurig macht oder nicht – und in der Bereitschaft, sich weich- und offenzuhalten für das Leiden anderer.