Längst vergangen scheint die Zeit der chinesischen Kulturrevolution in den 1960er-Jahren, als der Konfuzianismus pauschal als reaktionär verurteilt wurde. Eine Zeit, in der die Erinnerungen an die Denktraditionen Chinas nach offizieller Lesart ausgelöscht wurden.
Heute ist es in Chinas Führungskreisen wieder opportun, sich auf traditionelle Denkstile und Haltungen zu besinnen. Die Vision eines wohlhabenden und erstarkten Chinas baut auf alte Werte – jedenfalls teilweise und wohldosiert.
Weisheit des Ostens
Über viele Jahre hinweg wurde östliches Denken im Westen als ein Hort der Weisheit und In Form gefälliger Sinnsprüche wie «Was du selbst nicht willst, tue keinem anderen an» oder «Menschlichkeit heisst, Menschen zu lieben» verkürzt wahrgenommen. Merksätze, die sich leicht mit Wellness-Gedanken in Verbindung bringen und einen einnehmenden Charakter haben.
In Ostasien wurde seit dem 19. Jahrhundert mehr oder weniger alles, was im Westen Rang und Namen hat, ins Chinesische übersetzt. Umgekehrt hinkt das europäische Geistesleben hinterher, weil es diese Notwendigkeit, sich auf China auszurichten, lange Zeit nicht gab.
Der Westen hörte nicht zu
Für den Westen waren Chinas Denktraditionen lange Zeit keine Herausforderung oder wurden zumindest nicht als solche wahrgenommen. Sie dienten allenfalls als Inspiration, wenn man an die Bedeutung des Maoismus im Westen in den 1960er- und 1970er-Jahren denkt – der Zeit der Studentenproteste in den USA und Europa. Kurz: Der Westen hörte nicht zu.
China hörte zu und rezipierte westliches Denken, um das Land zu modernisieren. Ob es aber überhaupt so etwas wie eine chinesische Philosophie gibt, war lange Zeit umstritten, merkt der Münchener Sinologe Hans van Ess an.
Der Begriff «Zhexue», der heute verwendet wird, stamme ursprünglich aus dem Japanischen. Es handele sich um ein Wort, das im alten China fast gar nicht verwendet worden war. Daran zeige sich, «dass dieses chinesische Denken etwas ganz anderes ist als das westliche Denken».
Spiralförmig statt systematisch
Das unterschiedliche Verständnis von «Philosophie» mag auch der Eigenart der chinesischen Schriften und Zeugnisse geschuldet sein, einer Jahrtausende alten Kultur. Blickt man auf Zeugnisse chinesischer Denker, handelt es sich meist um Briefe, Anekdoten, Gleichnisse und Kommentare, aber selten um systematische Abhandlungen, wie man sie aus der westlichen Philosophie kennt.
Chinesische Texte sind zwar in sich stimmig und logisch aufgebaut, sie folgen aber anderen Wegen: Während westliche Texte einen Gedanken linear entwickeln, bewegen sich ihre chinesischen Pendants spiralförmig. Sie definieren nicht ein Problem oder Phänomen, sondern umkreisen es.
Paradoxes Denken
Ein markantes Beispiel für einen spiralförmigen Gedankengang ist das Verhältnis von Schwarz und Weiss im daoistischen Hauptwerk «Laozi Daodejing». Dort gibt es eine Stelle, wo der chinesische Philosoph Laotse davon spricht, dass man das «Weisse Wissen und das Schwarze Wissen» bewahren solle.
Diese Idee klingt für westliche Ohren zunächst kryptisch. Gemeint ist, dass paradoxes Denken das Gegenteil von «Schwarz-Weiss-Denken ist». Unser menschliches Wissen, so die Deutung, ist radikal begrenzt, so dass «Wissen» nur dann «Wissen» genannt werden kann, wenn es sich auf das Undurchsichtige besinnt.
Chinesisches Denken ist rätselhaft und entzieht sich messerscharfen Definitionen, wie man sie aus der abendländischen Philosophie kennt.
Zwei Hauptdenkschulen
Im Grunde sind es zwei Lehren, der Daoismus und der Konfuzianismus, die das chinesische Geistesleben der letzten 2500 Jahre nachhaltig geprägt haben.
Während im Daoismus das Nicht-Handeln (im Sinne eines Verzichts auf Handlungen entgegen eines natürlichen Verlaufs) und die Suche nach dem Dao (Weg), Anlass zahlreicher Reflexionen ist, stellt der Konfuzianismus die Erziehung des Menschen in den Mittelpunkt. Beide Lehren ergänzen sich in fruchtbarer Konkurrenz und zielen auf eine Lebenspraxis.
Die Erziehung des Menschen
Konfuzius war der erste chinesische Philosoph, dem es gelang, eine Schule zu gründen und eine Kette von Anhängern dazu zu inspirieren, seinen Namen und seine Gedanken weiter zu tragen. Er verstand sich nicht als Schöpfer von etwas Neuem. Vielmehr besann er sich auf fast vergessene Traditionen und Rituale.
Der Daoismus ist rund und der Konfuzianismus ist eckig.
Beide Denkschulen lassen sich letztlich auf ein einziges Grundprinzip zurückführen: Auf die Erziehung des Menschen zu einem nützlichen Teil der Gesellschaft, der einen Beitrag leistet, damit etwas Positives zustande kommt, und dass Fehlentwicklungen korrigiert werden.
Im Konfuzianismus wird der Mensch zum guten Bürger erzogen, im Daoismus spirituell geformt. Ein griffiges Sinnbild, das immer wieder auf den Gegensatz zwischen Konfuzianismus und Daoismus angewendet wird, lautet: «Der Daoismus ist rund und der Konfuzianismus ist eckig.»
Die beiden Lehren ergänzen sich aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven. Hans van Ess fasst es so zusammen: «Ein Mensch muss innen ein Weiser sein, und das ist das Runde, was man in sich drin haben muss. Aussen muss er ein König sein, und da muss er auch seine Ecken und Kanten haben.»
Marxismus versus Tradition
Mit der Gründung der Volkrepublik China 1949 und insbesondere in den Jahren der Kulturrevolution spielte die altchinesische Denktradition keine Rolle mehr – im Gegenteil: Sie wurde als reaktionär verpönt und bekämpft.
Aus westlicher Sicht ist das natürlich bequem, weil man sich dann mit der Tradition nicht beschäftigen muss.
Die radikale Neubestimmung der chinesischen Gesellschaft stützte sich auf ein westliches Denksystem, den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels, und nicht auf chinesische Weisheit. Ein Umstand, der auch den Blick des Westens auf chinesische Denktradition entscheidend geprägt hat, merkt der in Taiwan lebende Sinologe Fabian Heubel an.
«Aus westlicher Sicht ist das natürlich bequem, weil man sich dann mit der Tradition nicht beschäftigen muss», sagt Heubel. Diese hätten die Chinesen ja gewissermassen selbst «bereits in den Mülleimer der Geschichte geworfen».
Diese Denkweise erspare den enormen Arbeitsaufwand, sich mit der chinesischen Tradition zu beschäftigen. Denn: Die Entwicklung im 20. Jahrhundert, wie der Liberalismus oder der Marxismus, «ähnelt durchaus dem, was der Westen auch kennt», sagt Heubel.
Renaissance des Konfuzianismus
Die seit Jahren anhaltende Renaissance des Konfuzianismus, der immer wieder als Quelle staatspolitischer Weisheit konsultiert wird, ist jedoch ein sicheres Indiz dafür, dass sich China wieder intensiver mit der eigenen Tradition beschäftigt.
Dann hat der ganze Hörsaal die Sätze rezitiert, beinahe skandiert.
Hinzu kommt, dass es vielen Chinesen leichter fällt, sich mit traditionellen Lehren zu beschäftigen, wenn diese in prägnante Parolen verpackt werden. Hans van Ess erinnert sich an eine Veranstaltung in München: Im brechend vollen Hörsaal der Ludwigs-Maximilians-Universität referierte eine chinesische Dozentin über Konfuzius im Stil eines Popstars.
Der Raum sei bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Zu Beginn habe die Dozentin einen Satz von Konfuzius in den Raum geworfen. «Dann hat der ganze Hörsaal die Sätze rezitiert, beinahe skandiert» schildert van Ess sein Erlebnis.
Konfuzius und Kaderbildung
In den Texten, die die Kommunistische Partei für ihre Kader vorschreibt, befinden sich ähnlich eingängige Regeln: «Ihr müsst eine bestimmte Haltung haben zu dem Volk. Denkt immer, das Volk, das muss anständig erzogen werden. Es muss aber erzogen werden durch ein Vorbild.»
Diese klaren Prinzipien sind sehr einladend, lassen sich einfach vermitteln und knüpfen an das konfuzianische Ideal des edlen Menschen an, zu dem man aufschauen kann.
Tradition als Mittel zum Zweck?
Die Renaissance des Konfuzianismus wird von der Kommunistischen Partei Chinas allerdings nicht vorbehaltlos gefördert. Bereits Mitte der bisherigen Amtszeit von Staatspräsident Xi Jinping liess sich beobachten, dass auch eine Rückkehr zur marxistischen Ideologie stattfindet.
Nachdem er an die Parteispitze gelangt war, thematisierte Xi Jinping das Ende der Kommunistischen Partei in Osteuropa und den Untergang der Sowjetunion. Er befürchtete, dass die auf Konsum und Wohlstand ausgerichtete wirtschaftliche Entwicklung, wie sie in China seit den 1990er-Jahren zu beobachten war, früher oder später die Autorität der Partei untergraben würde.
Es galt fortan die Maxime, dass man die Parteikader wieder stärker ideologisch begleiten müsse.
Glaube an die Parteilinie
Die Rückbesinnung auf Traditionswerte, wie Ordnung, Gehorsam und beständiges Lernen, rückte den Konfuzianismus als nützliches Instrument der nationalen Identitätsstiftung in den Mittelpunkt.
Seit einigen Jahren gibt es eine offiziell anerkannte konfuzianische Kirche. Einige ihrer Vertreter, wie der Lehrer und Philosoph Jiang Qing, hatten der Parteiführung angeboten, ein konfuzianisches Programm zur Elitenbildung zu entwickeln. Dieses blieb jedoch marginal und ist durch Xi Jinping Rückbesinnung auf den Marxismus hinfällig.
Der Zürcher Sinologe Rafael Suter weist dennoch auf die bemerkenswerte Akzentverschiebung hin, die Religion und Parteilinie verknüpft. Der Begriff des «Glaube» (Xiāngxìn) zur Einschwörung auf die Parteiziele sei neu.
«Der Glaube an die kommunistischen Ideale ist eher eine ideologische Verwendung oder Nutzbarmachung der eigenen Tradition», sagt Suter. Er diene nicht als ein theoretischer Versuch, moderne Entwicklungen und innenpolitischer Probleme, die sich im heutigen China zeigen, zu erklären.
Paradoxes Denken und Geopolitik
Gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen traditionellem Denken und aktueller chinesischer Geopolitik? Fabian Heubel erkennt eine hauchfeine Spur in Bezug auf die brisante Taiwan-Frage. 1992 diskutierten hohe Beamte der Volksrepublik China und Taiwans über ihre jeweiligen Standpunkte in der «Ein-China»-Frage.
Beide Parteien waren sich einig, dass es nur «Ein China» gäbe, das sowohl aus der Insel Taiwan als auch aus dem chinesischen Festland bestehen würde. Allerdings hätten die Republik und die Volksrepublik China verschiedene Ansichten dazu, wie dieses «eine China» gemeint sei.
Dieser Konsens ist bislang die fragile Basis des komplizierten und gefährlichen Status Quo. Ein Paradebeispiel für paradoxes Denken, meint Fabian Heubel: «Es scheint alles nur leere Luft gewesen zu sein. Aber wenn man genauer hinsieht, dann ist es eine unglaublich komplexe Austausch-Tätigkeit.»
Auf ihr seien mehr oder weniger alle Bereiche des Lebens aufgebaut worden – von der Reise bis hin zur akademischen Zusammenarbeit, ökonomischen Zusammenarbeit und so weiter.
Keine eindeutige Antwort
Vielleicht ist es mehr denn je nötig, abseits der geopolitischen Beunruhigungen, die von China ausgehen, den Blick zurück auf Chinas verästelte Denktraditionen zu werfen. Sie erzählen auch von einem Denken in produktiven Widersprüchen. Es gilt das «Sowohl-als-auch» und nicht das westliche «Entweder-oder».
Mit dem Neo-Konfuzianismus verhält es sich wie mit dem paradoxen Denken chinesischer Klassiker: Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Der Neo-Konfuzianismus ist für die Kommunistische Partei Chinas eine weitere Option, die Rückbesinnung auf chinesische Werte in pragmatischer Weise zu fördern.
Viel interessanter wird es sein, dass sich im Zuge der Renaissance des Konfuzianismus der Blick auf den reichen Schatz altchinesischer Philosophie weiten wird, und auch im Westen weniger bekannte Denker zu einer Neubewertung des chinesischen Geisteslebens beitragen.