Besuch bei einer fünften Klasse im solothurnischen Trimbach bei Olten. Wie jeden Morgen beginnt der Lehrer den Unterricht mit einem Lied: «Ke Wäg isch dr z läng, du nimmsch Meile u Stunde», singen die Kinder – eine Melodie des Schweizer Liedermachers Peter Reber.
Eine Schulklasse, wie es sie schon immer gegeben hat, denkt man. Doch das täuscht.
Denn die Kinder heissen nicht Monika oder Barbara, Daniel oder Markus, sondern Firdevs, Tunahan, Matugi, Sathuryaan, Jonila oder Renato. Die Vornamen der Fünftklässler sind das Abbild einer Gesellschaft, die sich fundamental gewandelt hat.
Schleichender Umbruch
Mit diesem Umbruch befasst sich die Wiener Philosophin Isolde Charim. Dieser Umbruch sei nicht mit einem «Knall» erfolgt wie etwa der Fall der Berliner Mauer, sondern eher schleichend gekommen. Aber: «Dieser Prozess hat das, was wir unter Gesellschaft verstehen, massiv verändert.»
Verändert, indem sich der Kapitalismus gegen den Kommunismus durchgesetzt hat, die Grenze zwischen Ost und West durchlässiger geworden ist und die Menschen weltweit in Bewegung sind.
Für diese neuartige Zusammensetzung verwendet Isolde Charim den Begriff Pluralisierung. «Pluralisierung ist eine Erfahrung, die man auf der Strasse macht», sagt sie. «Die Leute, denen man begegnet, sind einem nicht ähnlich – sie benutzen andere Codes, sehen anders aus, agieren ganz anders.»
Individualisierte Gesellschaft
Aus solchen Beobachtungen leiten rechtskonservative Kreise die Forderung ab, man müsse die «alte Ordnung» wiederherstellen. Isolde Charim folgert daraus etwas anderes: «Niemand kann heute seine Kultur noch so leben, als ob es keine daneben gäbe», sagt sie.
Und: «Wir, die Einheimischen, verändern uns genauso, und wir müssen uns genauso anpassen wie diejenigen, die diese Pluralisierung bewirkt haben.»
Dazu kommt, dass wir in einer individualisierten Gesellschaft leben. Für Isolde Charim ist es eine spezifische Form von Individualisierung: eine, die das Individuum nicht bestätigt, sondern «infrage stellt».
Wer sind wir?
Fürs Individuum bringe jeder Tag neue Wahlmöglichkeiten, nämlich: Könnten wir nicht jemand anderes sein? Könnten wir nicht anders leben? Könnten wir nicht etwas anderes glauben?
«Früher waren diese Dinge vorgegeben, heute sind wir täglich damit konfrontiert und müssen sie neu entscheiden», so Isolde Charim. Kurz: Wir müssen jeden Tag unheimlich viel Arbeit leisten für etwas, das früher selbstverständlich war. Arbeit, um zu wissen, wer wir sind.
Das klingt anstrengend, ist gemäss Charim aber unausweichlich. Denn ein Weg zurück in eine «alte Ordnung», in eine homogene Gesellschaft gebe es nicht, ohne sich dabei die Hände blutig zu machen. Das habe die Geschichte Europas hinlänglich gezeigt.
Gleichzeitig mahnt Charim zur Geduld. «Es braucht Zeit, um diese massive Veränderung zu verarbeiten», sagt sie. 20, 30 oder 40 Jahre seien für ein einzelnes Leben viel – historisch betrachtet jedoch nichts. Langfristig sieht Isolde Charim die Pluralisierung optimistisch: «Ich bin überzeugt, dass sich in Westeuropa neue Gesellschaften bilden werden.»