Woraus besteht dunkle Materie – jene geheimnisvolle Substanz im Universum, die bisher noch nie gemessen werden konnte? Warum bestehen wir nicht aus Antimaterie – jenen rätselhaften Geschwister-Teilchen der Materie, die zum Zeitpunkt des Urknalls massenweise vorkamen, heute aber kaum mehr zu finden sind?
An offenen Fragen mangelt es nicht in der Physik. Antworten liefern soll ein neuer Teilchenbeschleuniger der Superlative – so die Pläne der CERN-Leitung.
Für 9 Milliarden Franken wollen sie einen Ringtunnel von 100 Kilometer Umfang bauen. Dieser soll kleine geladene Teilchen etwa siebenmal mehr beschleunigen können als es heute möglich ist. Dadurch sollen neue elementare Teilchen zum Vorschein kommen – so die Hoffnung am CERN.
Unter Erfolgsdruck
Die Grundlagenphysik steckt heute in einer besonderen Situation, so Günther Dissertori. Er ist Professor für Teilchenphysik an der ETH Zürich und vertritt seit Anfang dieses Jahres die Schweiz wissenschaftlich im CERN-Rat. «Wir suchen heute nach dem völlig Unerprobten, ohne vorher zu wissen, was das Resultat sein könnte.»
Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens vor sieben Jahren wurde eine der wichtigsten Theorien in der Physik abgeschlossen: das Standardmodell der Teilchenphysik, das den Aufbau der Materie so genau wie nie zuvor beschreibt. «Die Entdeckung des Higgs-Teilchens hat dem CERN eine mediale Aufmerksamkeit beschert, die vorher unvorstellbar war. Damit ist der Erfolgsdruck gestiegen.»
Gesucht: eine Theorie von allem
Seit Jahren suchen Physikerinnen und Physiker fieberhaft nach neuen, umfassenderen Theorien. Denn so genau wie das Standardmodell auch stimmt – es kann zum Beispiel die dunkle Materie nicht erklären.
Verschiedene neue Theorien hat es bereits gegeben. «Die ersten dieser Theorien sind experimentell ausgeschlossen worden. Sie haben klar nicht funktioniert», fasst Sabine Hossenfelder zusammen. Die theoretische Physikerin gehört zu jenen Stimmen, die dem Bau eines nächstgrösseren Teilchenbeschleunigers kritisch gegenüberstehen.
In der Sackgasse
Es fehle heute an einer ähnlich vielversprechenden Theorie wie dem Standardmodell – und damit auch die wissenschaftlichen Hinweise dafür, dass mit einem Ringtunnel von 100 km Umfang tatsächlich etwas fundamental Neues gefunden würde.
Dem widerspricht Günther Dissertori nicht: «Es kann Ihnen niemand eine Garantie ausstellen, dass im neuen Teilchenbeschleuniger tatsächlich neue Teilchen auftauchen werden.» Dieses Risiko gehört zur Grundlagenforschung dazu.
Wettrennen in der Teilchenphysik
Doch bei den Plänen des CERN geht es auch um dessen Zukunft generell: In China treibt der Leiter des Pekinger Instituts für Hochenergie-Physik ebenfalls ein Projekt für einen Teilchenbeschleuniger voran.
«Dieser Vorschlag sieht erstaunlich ähnlich aus wie das Projekt des CERN», sagt Günter Dissertori. «Wie weit dieses Projekt politisch fortgeschritten ist, kann ich nicht einschätzen. Aber eines ist sicher: Wenn sich die chinesische Regierung entscheidet, dass sie einen 100 km langen Tunnel bauen wollen, dann machen sie das einfach.»
In Europa hingegen ist es aktuell schwieriger denn je, dass sich die 24 Mitgliedsländer des CERN auf ein neues Grossprojekt einigen können. Auf dem Spiel steht also auch die Führungsposition des CERN in der Teilchenphysik – eine Position, die erstmals seit Jahrzehnten ernsthaft angefochten wird.