Patriotismus, Nationalismus und Kriegsverherrlichung stehen hoch im Kurs in Russland. Man verewigt sie in Lyrik, Z-Poesie und feiert einen Dichter, der genau diese Art von Gedichten schreibt. Nur: Der Dichter war Konstrukt eines Kollektivs. Seine Werke sind übersetzte deutsche Nazi-Lyrik und halten der Gesellschaft im Kriegsmodus den Spiegel vor. Wie genau, erklärt der russisch-stämmige Autor Alexander Estis.
SRF: Was hat dieses Kollektiv konkret gemacht?
Alexander Estis: Also zunächst einmal hat ein Kollektiv ein Fake-Profil mit dem Namen «Gennadi Rakitin» auf einem russischen sozialen Netzwerk erstellt: Ein Lehrer aus Moskau, Philologe, 49 Jahre, verheiratet, orthodox. Und dieser Dichter hat dann in knapp einem Jahr 18 Gedichte gepostet, die eigentlich Übersetzungen von nationalsozialistischer Lyrik sind. Man muss sagen, dass da wirklich die übelsten Vertreter der NS-Dichtung dabei sind.
Und das Kollektiv hatte Erfolg damit?
Der Erfolg bestand hauptsächlich darin, dass diese Gedichte vielfach gelikt und geteilt worden sind, auch von der Kulturwelt, der Literaturwelt, der sogenannten Z-Poesie, also der neuen patriotischen Lyrik, die von Staats wegen gefördert wird.
Es sind die gleichen Parolen, die gleichen Kriegs- und sogar Todes-verherrlichenden Formulierungen.
Zahlreiche russische Politiker, unter ihnen auch Duma-Abgeordnete, haben Rakitin geaddet – insgesamt an die 100 Vertreter. Diese Menschen wurden mit den Veröffentlichungen um Rakitin nun auf eine gewisse Weise diskreditiert.
Besonders absurd ist ja, dass wir über Nazigedichte sprechen, denn Russland will mit dem Krieg die Ukraine ja vorgeblich entnazifizieren.
Ja, das ist natürlich ein Absurdum. Und genau das wurde durch diese Aktion gezeigt: wie nah die Ideologie des Kremls an der Ideologie der Nationalsozialisten ist. Es sind die gleichen Parolen, es sind die gleichen patriotischen, heroisierenden, auch Kriegs- und sogar Todes-verherrlichenden Gedanken und Formulierungen.
Solche verdeckten Aktionen sind im Moment sehr verbreitet.
Das russische Regime wurde zumindest symbolisch von diesem Kollektiv aufs Kreuz gelegt. Ist das die Form von Widerstand, die in Russland noch geht?
Ja, in der Tat sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, weil man mit offenem Widerstand riskiert, inhaftiert zu werden. Auch Folter ist verbreitet, und das kann natürlich bis hin zur Eliminierung durch das Kreml-Regime gehen. Insofern sind solche verdeckten Aktionen tatsächlich im Moment sehr verbreitet.
Etwas freier sind diejenigen, die aus dem Ausland agieren. Hier wird auch oppositionelle Lyrik publiziert, auf Russisch, aber auch übersetzt in andere Sprachen.
Gibt es noch weitere bekannte Fälle, wie die des Fake-Poeten Gennadi Rakitin?
Man könnte noch den Prankster Arbon aus Belarus nennen. Indem er sich als Vertreter der Regierungspartei ausgegeben hat, konnte er an einer russischen Schule eine Aktion unter dem Motto «Arbeit macht frei» durchführen.
Im Anschluss an diese Aktion haben Schüler und Lehrpersonen sich mit Plakaten ablichten lassen, die nationalsozialistische Slogans enthielten, ebenfalls nur leicht angepasst an die russische Realität. Also ein Streich, der ähnlich funktioniert wie der Fake-Poet.
Das Gespräch führte Ruth Wili.