Januarloch. Leere macht sich breit. Nicht nur in den Läden, sondern auch in unseren Seelen. Die Gesellschaft erlebt einen nachweihnachtlichen Kater und versinkt im mikrodosierten Winterschlaf. Müdigkeit und Erschöpfung grundieren die Stimmung. Das liegt aber nicht nur am Januarloch.
Laut der Studie «Barometer Gute Arbeit 2023» ist die Erschöpfung der Arbeitnehmenden in der Schweiz auf einem Höchststand angekommen: Jede dritte Person ist zu erschöpft, um sich nach der Arbeit um familiäre oder private Angelegenheiten zu kümmern. Viele fühlen sich am Limit, klagen über Stress und machen sich Sorgen um die Welt.
Politik und Psyche hängen zusammen
Düstere Zukunftsaussichten schlagen auf die Stimmung. Jede dritte Person meidet deswegen sogar den Newskonsum. Die täglichen Negativschlagzeilen von Krieg, Klimawandel und Migration lösen ungute Gefühle aus, von Ohnmacht hin zu Ängsten und Depressionen.
Oft sei es dieses Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts, das zu gravierenden psychischen Störungen führen kann, meint der renommierte Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, Professor in Heidelberg.
Sein Ratschlag lautet daher: die Ohnmacht überwinden und wieder zur «Selbstwirksamkeit» finden. Zu dem Gefühl, dass ich die Dinge selbst kontrollieren und verändern kann – wenn auch nur im Kleinen.
Der gefühlte Kontrollverlust angesichts der Weltlage kann nicht nur zu Angst und Lähmung führen, sondern auch zu Wut und Aggression, meint Fuchs.
Das äussere sich auch in politischen Konsequenzen: etwa dem Vertrauensverlust in die Politik, dem Hass auf sämtliche Eliten oder der Sympathie mit Verschwörungsmythen. Psyche und Politik sind also eng verzahnt.
Aus dem Takt gebracht
Thomas Fuchs sieht die Wurzel des allgegenwärtigen Gefühls der Überforderung in einer «Desynchronisierung», also in einem Widerspruch zweier Zeitlogiken: Das Tempo unseres Körpers passe denkbar schlecht zum Takt unserer Gesellschaft.
Wir müssen lernen, den eigenen Körper zu bewohnen.
Unser Körper brauche Erholungsphasen, Rhythmen und Kreisläufe, wie bei der Atmung oder beim Wach-Schlaf-Rhythmus. Die Gesellschaft dagegen ticke nach einer linearen, beschleunigten Zeit, die kaum Pausen kennt und auf permanentes Wachstum aus ist. Diese pausenlose Beschleunigung sei Gift für die natürlichen Kreisläufe unserer inneren Natur.
Erschöpfung resultiere aber oft auch aus einer «Gratifikationskrise», wie Fuchs das nennt, aus fehlender Wertschätzung und «Resonanz» für die eigene Arbeit. Die eigene Arbeit wird von anderen nicht honoriert und darum als sinnlos empfunden.
«Die Sinnlosigkeit entsteht aus dem Gefühl: Ich setze mich doch so ein, ich mache das alles, aber es kommt nichts zurück», sagt Fuchs.
In Wahrheit blickt uns aus einem Smartphone niemand an.
Erschöpfung hat also auch mit Entwertung und Entfremdung zu tun: Man arbeitet vor sich hin – fremdbestimmt und unsichtbar – und versucht das schlechte Grundgefühl loszuwerden, indem man immer mehr arbeitet. Ohne Regenerationsphasen. Bis zum Zusammenbruch.
Ängste, Depressionen und Einsamkeit nehmen zu
Die aktuelle Schweizerische Gesundheitsbefragung des Bundes zeigt: Die psychische Belastung hat in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen, am stärksten bei jungen Frauen. Thomas Fuchs erklärt dies damit, dass Frauen stärker auf soziale Interaktionen und Beziehungen ausgerichtet sind und darum stärker unter der Isolation während der Pandemie gelitten haben.
Aber auch soziale Medien spielten eine Rolle, weil gerade junge Frauen sich auf den Plattformen einem permanenten Vergleichsdruck ausgesetzt sehen: «Dieses Gesehen- und Bewertetwerden ist ein fortwährender Stress», meint Fuchs.
Untersuchungen der US-amerikanischen Psychologin Jean Twenge zeigten gar, dass Ängste, Depressionen und Einsamkeit zunehmen, je mehr Zeit junge Menschen am Handy verbringen.
Für Fuchs ist das nicht überraschend, denn: «In Wahrheit blickt uns aus einem Smartphone niemand an.» Kein virtueller Austausch – egal ob Video-Call, Sprach- oder Textnachricht – kann eine echte physische Begegnung ersetzen. Es fehlt das, was Fuchs «Zwischenleiblichkeit» nennt: Augenkontakt, Berührungen, Wärme.
Die realen körperlichen Begegnungen sind nach Fuchs die «entscheidenden Erfahrungen für Wirklichkeit», für das Gefühl: «Jetzt bin ich wirklich da und in Beziehung.» Vor unseren je eigenen Bildschirmen werden wir alle zu «Masseneremiten», wie das der Philosoph Günther Anders einst nannte. Das Gefühl der Einsamkeit bleibt, auch wenn die Anzahl Follower zunimmt.
Der Körper als Rettung
Für Thomas Fuchs steht fest: Unser Körper spielt die entscheidende Rolle, wenn wir Stress, Ängste und Zerstreuung im Virtuellen vermeiden wollen. Wir müssen lernen, «den eigenen Körper zu bewohnen»: Die Aufmerksam zurückholen ins Hier und Jetzt, den eigenen Atmen spüren, die Füsse auf dem Boden.
Nur so kommen wir in der Gegenwart an und können uns verbinden: mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Natur, die bei Stresssymptomen ja erwiesenermassen eine heilsame Wirkung hat.
Fuchs geht aber noch einen Schritt weiter, indem er sagt: «Nur wenn wir unseren Leib wirklich bewohnen, werden wir auch die Erde als bewohnbar erhalten können.» Naturzerstörung ist also auch ein Symptom eines ungesunden, ausbeuterischen Umgangs mit unserer eigenen Natur, sprich: mit unserem Körper.
«Die Welt des Lebendigen steht im Widerstreit zum modernen Projekt des linearen Fortschritts und unaufhörlichen Wachstums», schreibt Fuchs zugespitzt. Welche konkreten politischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind, und ob eine Versöhnung zwischen Wachstum und Regeneration möglich ist, lässt er offen.
Aber klar ist: Wenn wir die Kreisläufe des Körpers und der Natur insgesamt ignorieren, dann brechen wir irgendwann zusammen. Als Mensch und als Gesellschaft.