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Religion in der Krise Der Glaube an Gott schwindet – die Sinnsuche bleibt

Vielerorts nimmt der Glaube ab. Zurück bleiben Versatzstücke. Auch der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann glaubt nicht an Gott. Doch er sieht in religiösen Tugenden eine Chance, Krisen anders zu denken. Statt einer Rhetorik der Angst und Verbote fordert er mehr Demut, als die neu entdeckte Verbundenheit.

Bernd Stegemann

Dramaturg und Kultursoziologe

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Bernd Stegemann wurde 1967 geboren und ist Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Er war als Dramaturg an renommierten Bühnen tätig, zuletzt am Berliner Ensemble. Neben seiner Theaterarbeit veröffentlicht er gesellschaftskritische Essays und Bücher. In seinen Schriften setzt er sich unter anderem mit Ideologie, Öffentlichkeit und Moral auseinander.

SRF: Sie beschreiben sich als katholisch ungläubig. Was hat das auf sich?

Bernd Stegemann: Es gibt in meinem Leben viele Alltagsrituale und magisches Denken. Wir alle kennen das: Wenn wir ein Flugzeug besteigen, haben viele Leute Sorge, dass etwas passieren könnte. Dann versuchen sie, einen Talisman mitzunehmen, der sie beschützt.

Gleichzeitig wären diese Menschen erschrocken, wenn sie hören, dass das Flugzeug nicht von einem Ingenieur, sondern einem Astrologen gebaut wurde. Über diesen Widerspruch habe ich angefangen nachzudenken.

Ihr Buch trägt den Titel: «Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse». Warum beschäftigen Sie sich als ungläubige Person mit diesem Thema?

Es gibt einen individuellen Grund: Eine grosse Sehnsucht nach einer anderen Art von Aufgehobenheit, als ich sie in meinem Leben in der säkularen Welt spüren und tatsächlich realisieren kann.

Die Apokalypse gehört zum Grundbestand von Protestaktionen der Letzen Generation oder Extinction Rebellion dazu.

Der zweite Grund ist, dass ich in der säkularen Welt Mitteleuropas unserer Zeit beobachte, wie sich Glaubenssplitter überall anhaften und zu so etwas wie Ideologien werden.

Was verstehen sie unter Glaubenssplitter?

Ein virulentes Beispiel sind die Protestaktionen der Letzten Generation oder von Extinction Rebellion. Sie argumentierten mit einem apokalyptischen Szenario – ein klassischer Splitter aus einem religiösen Denken. Die Apokalypse gehört zum Grundbestand dazu.

Die Fakten, auf die sich die Letzte Generation stützt, sind nicht ganz falsch. Wo also liegt das Problem?

Mein Problem beginnt, wenn in den säkularen Raum ein Absolutheitsanspruch dringt: Die Argumente zählen nicht mehr, weil die Apokalypse vor der Tür steht.

Dann ist kein Gespräch mehr möglich. Es heisst es nur noch: Entweder du folgst meiner apokalyptischen Prophezeiung und gehörst zu meiner Glaubensgemeinschaft – oder nicht.

Ihr Buch stellt die religiöse Tugend der Demut der apokalyptischen Prophezeiung gegenüber. Worin liegt ihre Kraft?

Wenn Politik Demut fordert, bedeutet das meist Verzicht durch gesetzliche Verbote und moralische Regeln. Ich meine etwas anderes: Wie könnte eine religiöse Ansprache heute aussehen, die nicht über Verbote funktioniert, sondern im Menschen selbst eine Sehnsucht nach Demut weckt?

Wir haben es mit einer ausufernden Vernutzung der Erde zu tun.

Eine Ansprache, die es ermöglicht, Demut neu zu entdecken, gerade weil wir alle durch vielfache Entfremdungen in der Welt unterwegs sind.

Geht es Ihnen dabei letztlich auch um Transzendenz?

Wir haben es mit einer ausufernden Vernutzung der Erde zu tun. Alles ist an einer Grenze, dass es nicht mehr sich selber regenerieren kann. Und weil sie global planetarisch ist, kann man sie nicht mehr mit den gängigen Mustern von Individualpolitik lösen. Sie ist ein transzendentes Phänomen, weil sie alles übersteigt.

Das Interview ist ein gekürzter Auszug aus dem Gespräch von Ahmad Milad Karimi mit Bernd Stegemann in der «Sternstunde Religion».

Buchhinweis

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Bernd Stegemann: «Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse». Klett-Cotta, 2024.

SRF 1, Sternstunde Religion, 9.2.2025, 10:00 Uhr ; 

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