«Das Internet vergisst nie», heisst es gemeinhin. Der Krieg in der Ukraine beweist das Gegenteil. Versucht man etwa, die Seite des Staatsarchivs von Charkiw im Osten der Ukraine aufzurufen, lässt sich die Webseite nicht erreichen.
Die Website ist bereits seit Anfang März offline. Auch zahlreiche andere digitale Dokumente sind potenziell gefährdet, weil sie auf Servern im Kriegsgebiet gespeichert sind und durch Bombardierung, Stromausfälle oder Hackerangriffe zerstört werden könnten.
Doch selbst wenn der Server, auf dem die Seite des Staatsarchivs gehostet wurde, zerstört wurde: Die Website und die dort abrufbaren Dokumente existieren noch. Denn eine Gruppe, die unter dem Namen SUCHO auftritt, hat kurz nach Kriegsausbruch ein vollständiges Backup davon angefertigt.
1300 Freiwillige aus aller Welt
SUCHO steht für «Saving Ukrainian Cultural Heritage Online», zu Deutsch: «Das ukrainische Kulturerbe online sichern». Hinter dem Akronym steckt ein internationaler Zusammenschluss von freiwilligen Helfern aus aller Welt.
Mehr als 1300 Forscherinnen, Archivare, Programmiererinnen und Bibliothekare weltweit arbeiten gemeinsam daran, wertvolle digitale Dokumente aus der Ukraine zu sichern und vor der drohenden Zerstörung zu bewahren.
Stefan Münnich vom musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel ist einer davon. Normalerweise arbeitet er an der Gesamtausgabe von Anton Weberns musikalischem Werk. Nun hilft er zusätzlich bei SUCHO mit. «Als Geisteswissenschaftler haben wir die Verantwortung, dieses kulturelle Erbe zu bewahren und zu dokumentieren», sagt er.
In einer Online-Tabelle des Projekts sind abertausende Links aufgelistet, die zu ukrainischen Websites führen. Darunter sind die Internetauftritte von Museen, Bibliotheken und Orchestern oder Datenbanken mit digitalisierten Büchern und Fotografien. Auch Aufnahmen seltener Volkslieder und gescannte Notenblätter von Chören finden sich auf der Liste.
Die Tabelle ist das zentrale Arbeitsinstrument des SUCHO-Projekts. Sie zeigt den Helferinnen und Helfern, welche Seiten bereits gesichert wurden, bei welchen etwas schief lief und welche noch gesichert werden müssen. Täglich kommen neue Links hinzu.
Das kopierte Kabarett
Münnich markiert eine der Zeilen in der Tabelle und lässt die URL von einem Onlinetool auf mögliche Gefahren hin prüfen. Schliesslich erstellt er mithilfe einer speziellen Software eine Sicherheitskopie der Website. Hinter dem Link verberge sich der Webauftritt einer ukrainischen Kabarett-Gruppe, erklärt er.
Alle bei SUCHO würden sehr produktiv und kreativ zusammenarbeiten, sagt der Musikwissenschaftler. «Menschen melden sich und sagen ‹ich kann Ukrainisch›, ‹ich kann ein bisschen programmieren› oder ‹ich kann Seiten identifizieren, die relevant wären›.»
Was Ende Februar mit einem spontanen Aufruf auf Twitter begann, hat sich innert kurzer Zeit zu einer grossen internationalen Kooperation entwickelt. Auch Amazon, die Universität Basel und andere Institutionen unterstützen das Projekt, indem sie Infrastruktur zur Verfügung stellen.
Für Historikerinnen der Zukunft
Nach eigenen Angaben wurden im SUCHO-Projekt mittlerweile mehr als 30 Terabyte Daten und über 3500 Websites gesichert. «Für viele ist es eine gute Möglichkeit, angesichts dieser katastrophalen Ereignisse überhaupt etwas zu tun», sagt Münnich.
Im besten Fall wird die Arbeit des Projekts nie gebraucht. Doch im schlimmsten Fall leistet sie einen wichtigen Beitrag dazu, dem Verlust des ukrainischen Kulturerbes entgegenzuwirken.
Nicht nur die ukrainische Gesellschaft, sondern auch die Historikerinnen und Historiker der Zukunft dürften der Gruppe dafür dankbar sein.