«Es war die Hölle, unter Raketenbeschuss aus meiner Heimatstadt zu fliehen.» Das sagt der ukrainische Künstler Pavlo Makov über seine Flucht aus Charkiw. Die zweitgrösste Stadt der Ukraine war eine blühende Kulturstadt, in der viele zeitgenössische Kunstschaffende lebten und arbeiteten. Pavlo Makov ist einer der Bekanntesten.
Ich fühle mich zurzeit nicht als Künstler, sondern vielmehr als Bürger, der die Pflicht hat, etwas für sein Land zu tun.
Der Krieg hat alles verändert, Charkiw liegt in Schutt und Asche. Die 92-jährige Mutter des Künstlers weigert sich zunächst trotz allem, in den Luftschutzkeller zu gehen. «Ich habe den Zweiten Weltkrieg überlebt, ich habe keine Angst», habe sie gesagt.
Bis sie sieht, was wirklich geschieht: die Zerstörung von Wohnquartieren, Verwundete, Tote – ein humanitäres Desaster. Über die Massaker in Butscha sagte sie zu ihrem Sohn: «Die Deutschen waren grausam, schrecklich, aber während des ganzen Weltkriegs habe ich solche Dinge nicht gesehen.»
Pavlo Makov ergreift mit seiner Mutter und seiner Frau die Flucht, lässt seine Kunstwerke und seine Heimat zurück. Und er schafft es nach Venedig.
Kunst schafft Identität
Der 63-jährige Pavlo Makov war schon lange eingeladen, an der Biennale seine Skulptur «Brunnen der Erschöpfung. Hochwasser» zu präsentieren. Für ihn ein wichtiger Beitrag für die Identität seines Landes: «Ich fühle mich zurzeit nicht als Künstler, sondern vielmehr als Bürger, der die Pflicht hat, etwas für sein Land zu tun. Die Ukraine muss repräsentiert werden, nicht ich.»
Der Widerstand dürfe nicht nur auf dem Schlachtfeld stattfinden, ergänzt die Kuratorin des Ukraine-Pavillons, Maria Lanko: «Wir hoffen, dass die ukrainische Kunst fähig ist, unsere Identität darzustellen. Die Russen wollen die Tatsache auslöschen, dass es die Ukraine gibt – als Land und als Kultur. Unsere Kultur zu bewahren und sie zu repräsentieren bezeugt, dass wir existieren.»
Von diesem Widerstand zeugt auch die «Piazza Ucraina» an der Biennale: Eine Installation aus getürmten Sandsäcken. So wie man sie derzeit in vielen ukrainischen Städten findet, um Skulpturen und Denkmäler vor den Bomben zu schützen.
Mut und Wille zum Widerstand
Um Makovs Installation in Venedig zu zeigen, ging Maria Lanko ein grosses Risiko ein. Denn das Werk aus 78 Einzelteilen befand sich bei Kriegsausbruch noch mitten im Bombenhagel von Kiew.
Die Kuratorin und ihr Team beschlossen mutig, die Skulptur aus der Gefahrenzone zu evakuieren: «Wir hatten ein halbes Jahr lang für den Pavillon gearbeitet, investierten unsere intellektuellen und finanziellen Ressourcen, unser Herz und unsere Seele. Es war sehr wichtig für unser Team, dass wir es an die Biennale schaffen würden.»
Maria Lanko lud die Einzelteile der Skulptur in ihr Auto und fuhr los Richtung Rumänien. Bis zur Grenze brauchte sie mehr als sechs Tage. Sie erinnert sich: «Normalerweise schafft man das in einem Tag. Aber die Strassen waren verstopft, es ging alles sehr langsam.»
Sie erreichte schliesslich Italien, wo die Einzelteile der Skulptur in einer Werkstatt zusammengefügt wurden.
Kunst retten
Der Schutz des kulturellen Erbes der Ukraine ist zu einem wichtigen Bestandteil der Kriegshilfe geworden. Die Museen versuchen, ihre Kunstschätze in unterirdischen Lagerbunkern in Sicherheit zu bringen. Und Galerien wie «The Naked Room» evakuieren laut Maria Lanko ihre Archive nach Möglichkeit in den Westen des Landes.
Pavlo Makov hatte mit seinen Kunstwerken Glück. Als sich die Situation in Charkiw zwischenzeitlich etwas beruhigt hatte – das heisst: Beschiessung statt Bombenhagel –, fuhr sein Sohn 1000 Kilometer aus der sicheren Westukraine nach Charkiw, um die Kunst zu retten. «Er sammelte meine Werke und die meiner Freunde in den Häusern und Ateliers ein», sagt Makov. «Ich bin sehr stolz auf ihn. Das war kein leichter Job.»
Das Drama überleben
Was kann Kunst in diesen Kriegszeiten konkret bewirken? Kunst sei keine Medizin gegen die Krankheiten der Gesellschaft, aber eine Diagnose, ist Pavlo Makov überzeugt. «Kunst beeinflusst das Leben, jedoch nur langfristig. Sie kann nichts sofort ändern. Aber ich denke, Kunst kann uns helfen, das Drama zu überleben.»
Makov will durch seinen Auftritt an der Biennale Respekt und Akzeptanz für die erschöpfte Ukraine und seine Landsleute gewinnen: «Sie sind froh über jede Art von Erfolg der Ukraine. Wenn jemand etwas Gutes macht und das vom Rest der Welt gefeiert und gewürdigt wird, dann ist das natürlich eine grosse moralische Unterstützung.»
Kreative helfen der Armee
Dem renommierten Künstler ist es sehr wichtig, dass man versteht: «Das ist der Krieg der ganzen Nation, nicht der Politiker oder der Armee alleine. Es ist ein patriotischer Krieg.»
Das Militär steht für die Verteidigung einer freien Zivilgesellschaft, deshalb unterstützen viele Kreative mit ihrer Kunst direkt die ukrainische Armee. Seit einigen Jahren gibt es in der Ukraine Wohltätigkeits-Auktionen, an denen Kunstschaffende ihre Werke zugunsten der Armee versteigern.
Kunst als Kriegshilfe
Zu ihnen gehört auch Pavlo Makov, nun hat er seine Direkthilfe intensiviert: «Wenn ich jetzt Kunstwerke verkaufe, dann behalte ich für meine Familie und mich nur das nötige Geld, um zu überleben und weiterzuarbeiten. Den Rest sende ich an die Armee oder an die freiwilligen Helfer.»
Das neueste Projekt, drei Wochen nach Kriegsausbruch entstanden, heisst «Art Helps Army». Es wird vom Schweizer Filmemacher Marc Wilkins gemanagt. Renommierte Künstlerinnen und Fotografen versteigern ihre Kunst, um der Armee zu helfen. Sie bieten allerdings nur Bilder an, die sich momentan nicht in der Ukraine befinden, um zu garantieren, dass die Werke auch wirklich lieferbar sind.
Der ukrainische Pavillon beeindruckt
Die Ukraine will nicht nur als Land im Krieg wahrgenommen werden, sondern ihre kulturellen Werte im Ausland verteidigen
Pavlo Makovs Skulptur ist dafür wie geschaffen. Sie ist im ukrainischen Pavillon das einzige Kunstwerk und besteht aus 78 Kupfertrichtern, die in Form einer Pyramide angeordnet sind. Das Wasser fliesst nur mühsam. Unten angekommen, tröpfelt es nur noch – ein Symbol der globalen Erschöpfung der Gesellschaft.
Pavlo Makov präzisiert: «Die Skulptur symbolisiert eine Art von grosser Erschöpfung der Menschlichkeit. Aber auch eine Erschöpfung unserer Beziehung zur Natur, unserer Beziehungen untereinander, zwischen den Ländern, in Politik und Ökonomie.»
Die Erschöpfung der Demokratie
Das Werk spricht laut der Kuratorin Maria Lanko die Gründe an, warum der Krieg überhaupt möglich gewesen sei: «Vor der Erschöpfung der Menschlichkeit gab es schon die Erschöpfung der Demokratie, die es Putin erlaubte, die Grenzen nicht mehr zu respektieren und zu prüfen, wie weit er gehen kann. Er kann weit gehen, wie wir sehen.»
Der russische Pavillon an der Biennale wird leer bleiben. Die Künstlerinnen und Künstler haben aus Protest gegen den Krieg abgesagt. Der Ukraine-Pavillon hingegen soll mehr sein als eine Kunstinstallation. Das erhofft sich Pavlo Makov: «Es ist sehr wichtig, ein Teil von Europa zu sein und als Ort wahrgenommen zu werden, wo Kultur spannend ist, wo sie wächst und wo viele interessante Dinge geschehen.»
Die Biennale beginnt dieses Wochenende am 23. April. Was Pavlo Makov und Maria Lanko danach tun und wohin sie gehen werden, wissen sie noch nicht. Es hängt vom Krieg und der Situation in der Ukraine ab.