«Dieser Kartoffel-Käfer, der hat auch meine Kartoffeln erwischt», meint meine Nachbarsgärtnerin, als sie sieht, wie ich verdutzt in meinem Schrebergarten vor dem Kartoffelbeet stehe. Wo noch Tage zuvor potente grüne Pflanzen aus der Erde ragten, sind nur noch ein paar mickrige Stängel übrig.
2020 ist wohl nicht mein grösstes Erntejahr. Denn wie die Schnecken-angeknabberten Radieschen müsste auch mein Krautstiel beim Anblick der fein geputzten Strebergärten von nebenan wegen Minderwertigkeitskomplexen in eine Therapie gehen.
Die Geburt des Schrebergartens
Trotz bescheidenem Ertrag halte ich seit drei Jahren an meiner naturnahen, etwas struppigen Gartenphilosophie fest. Mit dem Ursprungsgedanken des Schrebergartens hat meine «Anarcho-Parzelle», wie ich sie persönlich nenne, am Luzerner Stadtrand wohl nicht mehr viel zu tun.
Die Idee des Schrebergartens spross im 19. Jahrhundert und war einst Instrument in der Kinder- und Jugendmedizin. Bewegung und Betätigung an der frischen Luft, so war der Leipziger Arzt Moritz Schreber überzeugt, helfe Kindern, die unter Haltungsschäden litten.
Ihm zu Ehren wurde 1865 in Leipzig eine Wiese hergerichtet, auf der sich Kinder unter Aufsicht austoben durften. Angrenzend an diesen sogenannten Schreberplatz entstanden schliesslich Kleinbeetanlagen für Kinder und deren Eltern, die Schreber- oder Familiengärten.
Exil mit Sicht aufs Tomatenhaus
Besonders diesen Sommer sehnten sich offenbar viele nach einem solchen von Dr. Schreber verschriebenen Exil mit Tomatenhaus. 5'500 zusätzliche Parzellen mehr wären nötig, um die Anfrage zu decken. So berichtete es der Schweizer Familiengarten-Verband Anfangs Juni.
Der Schrebergarten gewährt geschützten, privaten Raum, ist trotzdem draussen und bietet die Möglichkeit zum Austausch mit Nachbargärtnerinnen. Dass der vom Homeoffice verrenkte Rücken dabei in eine andere Position gejätet wird – eine willkommene Nebenwirkung.
Ist Gärtnern cool?
Aber was ist es, das immer mehr junge Leute für den Kleingarten begeistert, wie es die Aargauer Zeitung berichtete? Ist es die Stadtverdrossenheit und das Bedürfnis nach Natur auf 8x10 Metern? Oder ist Gärtnern womöglich, brace yourselves, cool geworden? Ist Gärtnern das neue Kochen?
Cool fühle ich mich zwar nicht, wenn ich mit meinen löchrigen Kleidern und Sonnencreme im Gesicht mit meinem Oben-ohne-Nachbar über Hornspäne quatsche. Aber was weiss ich denn schon über Coolness? Ich hab ja nicht mal TikTok.
Die Wichtigkeit der Nichtigkeit
Als ich jedoch kürzlich erneut über meine verloren gegangene Kartoffelernte nachdachte, fragte ich mich: «Habe ich eigentlich keine anderen Probleme im Leben?»
Vielleicht liegt genau darin das Geheimnis. Im Schrebergarten gibt es keine Politik, keine Prüfungen. Es gibt nur den Garten, Radieschen, Hornspäne, mich und leider auch den Kartoffelkäfer.