Aus Brennnesseln Suppe kochen, Wurzeln ausgraben und essen, Feuer ohne Streichholz entfachen, frieren, sich vor Regen schützen, ein «Shelter» bauen. Das steht auf dem Programm eines Survival-Trainings im Zürcher Oberland. Drei Tage, zwei Nächte. Wer will das freiwillig?
«Zu mir kommen Herr und Frau Schweizer, Herr und Frau Deutschland oder ganz einfach verschiedenste Menschen. Quer durch alle Berufe», sagt Gion Saluz, Survival-Trainer.
Die Trainings sollen boomen, liest man. Nationale oder internationale Studien dazu gibt es aber noch keine. Auch bei Kursleiter Gion Saluz läuft das Geschäft. Im ersten Corona-Lockdown verzeichnete er zwar noch kaum ansteigende Zahlen, im zweiten dann zogen die Anmeldungen deutlich an.
Genauso unterschiedlich wie Herkunft und Beruf sind auch die Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Drei von ihnen haben wir befragt.
Wärme und Essen
Daniel Meier arbeitet in der Pharmabranche und hat erlebt, wie Lieferketten in der Coronazeit zusammenbrachen und nichts mehr funktionierte. Da habe er gemerkt, «wie labil die Welt ist und wie empfindlich». Er fragte sich: «Was ist wirklich wichtig im Leben? Das ist Wärme und Essen.» Ganz elementar.
Daniel Meier machte sich Sorgen, dass er sich und seine Familie nicht mehr versorgen könnte. Während des ersten Corona-Lockdowns habe es geheissen, man solle Notvorräte für eine Woche anlegen. «Ich habe erst den Kühlschrank geöffnet, dann bin ich in den Keller. Das hätte alles nirgendwo hingereicht.»
Also fragte sich Daniel Meier: «Was ist, wenn die Gesellschaft zusammenbricht? Wenn's nicht mehr darum geht, ob man die Rechnungen bezahlen kann und die schöne Wohnung, sondern sich fragen muss: Wo ist meine Schale Reis?»
Von solchen Sorgen gequält, hat ihm seine Frau den Survival-Kurs geschenkt.
Aus Liebe zur Natur
Für Philipp Pfister und eine gute Freundin, die oft zusammen wandern, war nicht die Corona-Krise ausschlaggebend, sondern das Naturerlebnis. «Ein Survival-Kurs heisst zwar so, aber bei uns muss niemand ums Überleben kämpfen. Das ist das Beste, um die Natur schätzen zu lernen. Die Natur bietet viel, auch viel Ruhe.»
Als im Lockdown vieles geschlossen war, hätten viele Leute nicht mehr gewusst, was sie mit der Zeit anfangen sollen. «Die merkten gar nicht, dass uns die Natur vieles bietet, wenn wir sie nicht kaputt machen», sagt Philipp Pfister.
Ein Abbild der Krisenzeit
Überlebensängste und Naturverbundenheit sind zwei Beweggründe für Menschen, die Survival-Trainings buchen. Die grosse Breite an Teilnehmenden und ihren Motiven findet auch Alexander Fischer spannend. Der Philosoph an der Universität Basel forscht unter anderem zu Aussteigerinnen und Aussteigern und ist Therapeut sowie Film- und Literaturwissenschaftler.
«Wir haben einerseits eine Zweckrationalität, die sagt: Es ist nützlich, bestimmte Skills zu haben im Umgang mit der Natur, um die eigenen vitalen Bedürfnisse befriedigen und überleben zu können», sagt er.
Aus der Formel ausbrechen
Daneben gebe es jene, die nicht zweckrational herangehen, sondern die intensive Naturerfahrung suchen und eine Sehnsucht nach Resonanz mit der Natur verspüren. «Das ist bedeutend geworden in den Zeiten, in denen wir heute leben», sagt Fischer. In Zeiten, die von erodierendem Vertrauen, Krieg, Klima- und Wirtschaftskrisen geprägt seien.
Fischer sieht noch einen anderen wichtigen Grund für die Nachfrage von Survival-Trainings: «Das ist auch vor dem Hintergrund einer Gesellschaft zu sehen, die nach einem durchrationalisierten Takt und nach einer bestimmten Formel funktioniert: X machen, um Y zu erreichen – mit dem Mittel Z in einer bestimmten Zeit.» Daraus würden wohl immer mehr Menschen ausbrechen wollen, analysiert er.
Der Weg zu sich selbst
Raus aus der Komfortzone wollte auch Patricia Calvillo. Sie ist Therapeutin und war auf der Suche nach neuen Erfahrungen im Umgang mit der Natur: «Das Thema Selbstversorgung interessiert mich schon lange, diese Verbundenheit mit der Natur und dem, was sie uns gibt.»
Calvillo hatte vor dem Training noch nie in einem Zelt übernachtet und darum auch etwas Angst. Beim Aufbauen des Shelters vor Einbruch der Dunkelheit beispielsweise sei sie überfordert gewesen.
Dass zudem Mona Vetsch mit ihrem Kamerateam für «Mona mittendrin» drehte, minderte ihre Nervosität nicht. Aber Calvillo hielt an ihrem Vorhaben fest und wollte etwas Neues ausprobieren: «Das mache ich jetzt. Gewisse Grenzen zu überschreiten, tut mir gut.»
Zur Ruhe kommen
In der ersten Nacht habe sie grauenhaft geschlafen, in der zweiten schon viel besser. «Die Teilnehmer bildeten eine gute Gruppe», sagt Patricia Calvillo. Sie habe Unterstützung und Zusammenhalt erfahren, was sie sehr geschätzt habe.
Jetzt, mit zeitlichem Abstand zum Erlebten, sagt sie: «In der heutigen konsumorientierten Gesellschaft sind wir von der Natur – und auch von uns selber – immer mehr entfremdet.» Calvillos Hoffnung war: «Wenn wir der Natur näherkommen, dann kommen wir uns selber näher.»
Genau diese Erfahrung habe sie gemacht. Ihr Selbstbewusstsein habe sich gesteigert und eine innere Ruhe habe sich breitgemacht.
Die Entfremdung von der Natur
Die Entfremdung, die Calvillo beschreibt, sieht Philosoph Alexander Fischer im Wachstums- und Konsumzwang unserer Zeit begründet. Zwang deshalb, weil «das alles systemische Formen sind, in denen wir leben und denen wir kaum entkommen können». Dazu komme eine Reizüberflutung als weiterer wichtiger Grund. «Wir haben gesteigerte Möglichkeiten, die auch überfordern können. Und wir haben eine Art von Vermassung, der wir unterliegen.»
Was alle Teilnehmerinnen aus ganz unterschiedlichen Gründen beschreiben: In einem Survival-Training geht es um Primärbedürfnisse, um die elementarsten Grundlagen menschlicher Existenz gegenüber dem Leben in einer weitgehend saturierten Gesellschaft mit allen Zwängen des «Immer höher, immer weiter».
Selbstoptimierung bis in den Schlaf
Wie schwer eine Befreiung von diesen Zwängen fällt, zeigt der Beweggrund, die «Komfortzone verlassen zu wollen», der von manchen genannt wird. Das ist letztlich kein Gedanke, der das Denkmuster der Leistungsgesellschaft infrage stellt oder gar sprengt, sondern bleibt im Denkmuster der Selbstoptimierung.
Firmen optimieren ähnlich und schicken Mitarbeitende an einen Teamevent, damit sie lernen, «outside the box» zu denken. Ob das gelingt? Kaum, denn ob Büro oder Wald macht keinen Unterschied, wenn die Denke dieselbe bleibt.
Dasselbe zeigt sich in der neudeutschen Formulierung «Power Nap». Da hetzen manche durch einen kurzen Schlaf, um wieder zu funktionieren. Selbst der Schlaf ist optimiert. Die Zwänge des «Funktionieren müssen» haben sich in der Sprache niedergeschlagen.
In der Endlosschleife der Leistungsgesellschaft
Das Aussteigen beginnt mit dem Denken – nicht mit dem Wald. Es geht letztlich um eine andere Lebensform, andere Werte, um Freiheit. Die Natur symbolisiert all das und hat darum Konjunktur. Seit vielen Jahren.
Aussteiger der 1960er- bis 80er-Jahre wurden von manchen noch kopfschüttelnd belächelt. Heute sind sie Teil des Mainstreams. Teil der popkulturellen Bewirtschaftung einer Sehnsucht. Pointiert gesagt: Wer vor 50 Jahren ausstieg, war ein Hippie oder Versager. Heute ist die Bewertung anders. Heute stellt er sich die Sinnfrage und die nach einer stärkeren Selbstbestimmung.
Survival als Mainstream
Der Wandel schlägt sich in der Populärkultur nieder: «In den 80er-Jahren gab es erst wenige Serien aus der Wildnis. Heute gibt es unzählige Reality-TV-Serien, etwa das amerikanische Format ‹Live Free or Die›», sagt Alexander Fischer. Solche Serien seien Mainstream: «Deswegen werden auch immer mehr Leute darauf aufmerksam.»
Fischer nennt auch das Phänomen #CabinPorn auf Instagram: Unter dem Hashtag werden entlegene Hütten fotografiert und bekannt gemacht. «Naturbilder gewinnen durch die sozialen Medien immer stärkeren Einfluss.»
YouTube-Kanäle oder Blogs beschäftigen sich mit Naturerfahrungen oder dezidiert mit Survival-Trainings. «Diese Mainstreamisierung ist ein typisches Phänomen des Kapitalismus, der es immer wieder schafft, alles zu inkorporieren, um es dann als Produkt zu verkaufen», sagt Alexander Fischer.
Einstieg für Aussteiger
Die porträtierten Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer sind keine klassischen Aussteiger. Aber mancher stellt sich wie Daniel Meier die Sinnfrage. Mehrere glauben, dass die zivilisierte, hoch technisierte, hoch kapitalisierte Zeit nicht alles ist – und haben eine Ahnung von «etwas Grösserem».
Doch was ist dieses Grössere? «Resonanz. Die sieht ganz verschieden aus», sagt Alexander Fischer – und nennt vier Ausprägungen:
- Die sinnliche Resonanz: Einige Kursteilnehmer beschreiben, wie ruhig sie plötzlich in der Natur werden.
- Die biografische Resonanz, die normalerweise mit der Begrifflichkeit Heimat assoziiert werde.
- Die spirituelle Resonanz: «Die Natur lässt mich eine Ahnung haben, dass es etwas Höheres, etwas Transzendentes geben mag», so Fischer.
- Schliesslich die ästhetische Resonanz – die Suche nach dem Schönen.
Alle vier Faktoren seien wichtig für ein gutes Leben – und sie sind uns zum Teil verloren gegangen. Dieser Verlust sei ein Beweggrund, mit einem solchen Training und einer existenziellen Erfahrung nach der Resonanz zu suchen. «Dass das in unserer rationalisierten Sprache nicht vollständig beschreibbar ist und wir darum Hilfsplatzhalter wie ‹etwas Grösseres› oder Ähnliches brauchen, ist folgerichtig», sagt Fischer.
Patricia Calvillo, die Therapeutin, sagt, das Survival-Training sei «ein weiterer Meilenstein» gewesen. Es habe sie erst ausser sich, dann näher zu sich selbst gebracht.