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Vielseitigkeit im Berufsleben Glücklich mit mehreren Jobs – aber die Arbeitswelt stört es

Menschen mit vielen Interessen und Begabungen wollen oft mehr als nur einen Job. Doch auf dem Arbeitsmarkt ecken sie damit an.

Afi Sika Kuzeawu studierte Wirtschaft, Musik und Psychologie, leitet Workshops an Universitäten. Sie berät Doktorierende als «Karrierecoach», inwiefern sie an der Uni bleiben oder in die freie Wirtschaft gehen sollen. Zudem berät sie Führungskräfte, die herausfinden wollen, was sie im tiefsten Innern antreibt.

Sie begann als Marktforscherin und wechselte dann zu einem Job als Analystin. «Damals mein Traumjob, der einzige, auf den ich mich nach meinem ersten Job beworben habe. Ich war stolz, dass ich sofort eingeladen wurde.» Als sie den Vertrag unterschrieb, fühlte sie sich «komplett leer. Dabei hätte ich mich freuen sollen».

Nach zwei Jahren in dem Job kam die Krise, sie stieg aus. Dafür sei sie heute dankbar: «Die Krise hat mich gerettet. Es war der falsche Job.» Daraufhin studierte sie Kontrabass. Ihr Traum: «Einmal eine Jazzplatte veröffentlichen, über die die Fachzeitschrift ‹Jazzthing› berichtet.»

«Sie sind zu vielfältig»

Heute berät Kuzeawu Menschen, die sich fragen: Was will ich im Leben, in der Arbeit? Sie ist doppelt kompetent: fachlich und biografisch. Mit ihren verschiedenen Interessen und Joberfahrungen gilt sie als «Scanner-Persönlichkeit» – der Begriff bezeichnet vielbegabte Menschen. Beste Voraussetzungen für den Arbeitsmarkt, sollte man meinen.

Was sind Scanner-Persönlichkeiten?

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«Scanner-Persönlichkeit» ist eine Bezeichnung, die die amerikanische Unternehmerin und Karriereberaterin Barbara Sher seit 1979 in mehreren Büchern prägt. Damit gemeint sind vielbegabte Menschen; «Universalgenie» oder «Tausendsassa» wären andere Bezeichnungen. Das kann Fluch und Segen zugleich sein.

Der Begriff ist einigermassen definiert, aber nicht genau gegen andere abgegrenzt. Viele Interessen, Begabungen zu haben, tritt auch bei Menschen auf, die sich nur für einen Beruf entscheiden. Scanner üben zumeist mehrere aus.

Eine Jobvermittlung riet ihr jedoch: «Sie sind zu vielfältig, das macht Angst, man kann Sie nicht einordnen. Entscheiden Sie sich für etwas.»

Das war doch nur früher so, könnte man denken, aber nein: Einer Juristin, die anonym bleiben will und nebst Kanzleiarbeit eine Fashion-Firma betrieb, riet man vor Kurzem, diese aufzugeben und sich innerhalb des Rechts für nur einen Teilbereich zu entscheiden. Da hat sie in der Kanzlei gekündigt.

«Ich erzähle nicht mehr alles»

Wenn Roland Schmidlin mit 30 Jahren erzählte, was er alles mache, dann haben die anderen wahrscheinlich gedacht: «Der spinnt oder lügt. Ich war den Leuten unheimlich.» Heute ist er klüger: «Ich erzähle nicht mehr alles.»

Roland Schmidlin ist Sozialarbeiter und begleitet als Arbeitsagoge Menschen in der beruflichen Integration. Er entwirft und baut Möbel, schweisst Metallobjekte, repariert Altes, baut Neues, dreht Filme, auch Animationsfilme.

Mann in schwarzem T-Shirt steht vor Türe
Legende: Neben seiner vielfältigen Arbeit in der Werkstatt ist Roland Schmidlin als Sozialarbeiter tätig. SRF/Franz Kasperski

Wie soll man das alles auch einordnen? Heute ist Schmidlin über 50, da «verbuchen die anderen das als Erfahrung. Dann geht’s».

Eine Vielzahl weiterer Befragter, die nicht genannt sein wollen, bestätigen diese Erfahrungen. Gleichlautend sagen sie, die Vorstellung von Expertentum sei noch immer, man könne nur eine Sache richtig machen.

Überholte Vorstellungen

Dieses Denkmuster sei alt, sagt Brigitta Bernet, Historikerin und Dozentin für Geschichte der Neuzeit an den Universitäten Zürich und Freiburg. «Seit den 1920er-Jahren fusst die Grundidee der Arbeitspsychologie – derer sich auch die Berufsberatung bediente – auf Klassifizierungen, um das ‹richtige Menschenmaterial›, die Human Resources, in den richtigen Job zu bringen.»

Bernet erwähnt einen Film aus den 1950er-Jahren: «The Man in the Grey Flannel Suit» mit Gregory Peck. Ein prototypischer Film. Der propagiere dieses «bis zur Pensionierung im gleichen Betrieb tätige Arbeitssubjekt mit einem Vollernährer-Lohn in einer 100-Prozent-Anstellung».

Mit der Flexibilisierung der Arbeitswelt in den 1970er-Jahren habe sich das geändert: Das Aufkommen von Teilzeitarbeit ermöglichte, über neue Lebens- und Arbeitsentwürfe nachzudenken, Familien und Erwerbsarbeit unter einen Hut zu bringen. «Was für Frauen noch mal eine ganz andere Sache war, weil sie typischerweise hauptsächlich mit der Familienarbeit beschäftigt waren», sagt Brigitta Bernet.

Kreativ ja, aber nicht zu kreativ

Seit den 1990er-Jahren sei «der Kreativimperativ extrem stark geworden: Selbstverwirklichung in der Arbeit. Arbeit zwischen Lust und Last». Dieser Zwang zur Kreativität sei ambivalent.

«Einerseits ist dieses ‹thinking outside the box› erwünscht. Innovation ist ein grossgeschriebenes Standortvorteils-Wort, auch in der Schweiz. Andererseits stört es manchmal auch, wenn man zu weit ausserhalb der Box denkt», sagt Bernet.

Scanner denken ausserhalb der Box, aber manchmal ausserhalb mehr als einer Box. Das irritiert. So werden ihnen die verschiedenen Jobs als Unentschiedenheit ausgelegt. Übersehen wird dabei, wie sich ihre Kompetenzen ergänzen.

Kombination vieler Fertigkeiten

Zum Beispiel hat Roland Schmidlin als Arbeitsagoge nicht nur die nötige psychologische Schulung als Kompetenz, er weiss auch, wie man schweisst, schreinert, Gartenbau betreibt. Schmidlin hat mehre Kompetenzen.

Er weiss, was es ganz praktisch heisst, Metall zu verarbeiten, er hat aber auch die Draufsicht und kann einiges über Verarbeitungsprozesse sagen. Es entsteht eine, nennen wir es, «Metakompetenz».

Das mit dem 100-Prozent-Job ist ein Intermezzo im 20. Jahrhundert von sehr privilegierten Männern.
Autor: Brigitta Bernet Historikerin

Afi Sika Kuzeawu hat ebenfalls durch die Kombination ihrer Studien, ihrer diplomierten Coaching-Ausbildung und der Lebenserfahrung das Know-how, Menschen in Entscheidungsprozessen zu unterstützen. Erst die Kombination dieser Einzelfähigkeiten macht Kuzeawu sowie Schmidlin aus. Ein grosses und anstrengendes Kapital.

Permanent müssen die Scanner Jobs jonglieren, langfristige Planung und kurzfristige Aufträge organisieren. Werden sie gefragt, wieviel Stellenprozente sie in dem einen und anderen Jobs ausüben, antworten sie, dass sie sich das nicht fragen. Das sind traditionelle Klassifizierungsmuster aus der Zeit der grauen Anzüge.

Scanner fordern heraus

Graue Anzüge fragen sich, wie man die vielinteressierten Menschen führen soll, wenn sie nicht über Position, Status und Lohn als Anreiz funktionieren. Wenn sie kein gesteigertes Interesse haben, die Stellenprozente zu erhöhen. Wenn sie sich nicht mit Work-Life-Balance beschäftigen, sondern mit Work-Work-Balance.

Eine anonyme Befragte sagte, ihre Firma habe es nicht geschätzt, dass sie auf «verschiedenen Hochzeiten tanze».

Bücher und Beiträge zum Thema Arbeit:

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Brigitta Bernet:

  • «Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz», hg. v. Brigitta Bernet und Jakob Tanner. Limmat, 2015.
  • «Mitbestimmung oder Selbstverwirklichung? Kritik und Krise der Arbeitswelt in den 1970er Jahren», in: Regula Ludi / Matthias Ross / Leena Schimmer (Hg.): «Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz». Chronos, 2018.

Richard Sennett:

  • «Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus». Hanser, 1998.
  • «Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält». Hanser, 2012.

Hartmut Rosa:

  • «Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne». Suhrkamp, 2005.
  • «Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit». Suhrkamp, 2013.

«Dabei», sagt Brigitta Bernet, «gab’s Scanner schon immer. Wenn ich an meine Grossmutter denke: Hof, mähen, melken, managen, verkaufen, liefern … da komme ich schnell auf neun Tätigkeitsfelder. Wenn man die Menschheitsgeschichte anschaut, dann ist das mit dem 100-Prozent-Job ein Intermezzo im 20. Jahrhundert von sehr privilegierten Männern».

Bernet erwähnt eine Kampagne der Berufsberatung für junge Menschen im Kanton Zürich. Da hängen Plakate, auf denen sinngemäss steht: «Lerne Florist, werde Designer.» Darin stecke Wandel und lebenslanges Lernen.

Ein Job kommt selten allein

Der Knackpunkt an der Offenheit und Flexibilität der Scanner: Wenn sie schon zwei oder drei Jobs haben, gesellt sich gerne auch noch ein weiterer dazu.

Neben allem anderen konzertiert Afi Sika Kuzeawu seit Jahren mit ihrem Kontrabass. Ein zusätzliches Betätigungsfeld: Sie initiiert Empowerment-Prozesse.

Frau spielt Bass und singt, blaues Licht im Hintergrund
Legende: «Ich kann nicht nur einen Job machen», sagt Kuzeawu. Sie ist gerne auch als Jazz-Bassistin und -Sängerin tätig. Afi Sika Kuzeawu

Sie gründete den Verein «Human, Connect!», mit dem sie Menschen nachhaltig zusammenbringen will. Kuzeawu ist aufgefallen, «wie gleichgültig und voreingenommen Menschen aneinander vorbeigehen». Dagegen will sie etwas tun.

Roland Schmidlin berät neuerdings neben Künstlerinnen auch andere Menschen und bietet praktische handwerkliche Unterstützung an sowie sein konzeptionelles prozessorientiertes Wissen. Auch das sind vielseitige Tätigkeiten.

Talente und Träume leben

Genau diese Vielseitigkeit der Scanner findet eine anonym Befragte beneidenswert. «Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, tut es mir leid, dass ich nur einen Job kann. Aber das werde ich ändern. Talente, Träume zu leben, muss schön sein», sagt sie.

Apropos Träume: Afi Sika Kuzeawu hat ihre Platte, von der sie 2009 am Kontrabass träumte, aufgenommen. 2020 ist sie erschienen – und «Jazzthing» hat darüber geschrieben.

Radio SRF 1, Ratgeber, 4.4.2025, 11:08 Uhr.

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