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Illustration einer Person mit Pflastern im Gesicht.
Legende: Getty Images/Malte Mueller

«Weiblicher Schmerz» Die Frauen leiden – und die Medizin hört nicht hin

«Weiblicher Schmerz» wird oft ignoriert und nicht ernst genommen, von Frauen wie von Medizinern. Warum ist das so? Untersuchung eines kranken Systems.

Kürzlich habe ich mir die Kupferspirale einsetzen lassen. Den Schmerz fürchtete ich. Als mir die T-förmige Spirale durch den Muttermund in die Gebärmutterhöhle eingeführt wurde, fühlte ich eine Stichflamme in meiner Körpermitte.

Hand hält ein Intrauterinpessar (IUP).
Legende: Kleiner Gegenstand, grosser Schmerz: Für viele Frauen ist das Einsetzen einer Kupfer- oder Hormonspirale sehr schmerzvoll. IMAGO/Depositphotos

Meine Freundinnen sagten: «Schon schlimm.» Stärkere Periodenschmerzen sind danach möglich, dafür hat man fünf Jahre Ruhe, statt sich Gedanken über Verhütung machen zu müssen. Wenn sie das aushielten, dann ich ja wohl auch. Gegenüber meiner Frauenärztin wollte ich nicht die Wehleidige sein. Ich dachte: Andere überstehen schliesslich Geburtsschmerz.

Ich war froh, nicht in Ohnmacht zu fallen.

Der Gender-Pain-Gap

Was halten wir Frauen da eigentlich alles aus? Wieso übergehen wir Schmerz, werten ihn ab oder nehmen ihn hin? Das hat sich auch Eva Biringer in ihrem aktuellen Buch «Unversehrt. Frauen und Schmerz» gefragt. Darin untersucht die Journalistin den «Gender-Pain-Gap». Dieser besagt, dass «weiblicher Schmerz» anders bewertet wird als männlicher.

Frau mit rotem Lippenstift bei Nacht.
Legende: «Am besten gehen Frauen mit einem Mann zum Arzt. Dann wird ihnen zugehört», sagte Eva Biringer in einem Interview mit der Frauenzeitschrift «Brigitte». Das würden Erfahrungswerte und auch Studien belegen. Wikimedia Commons/Vincent Bauer

«Über Jahrtausende hat sich die Annahme verfestigt, Frauen seien empfindlicher, obwohl sie schon von Natur aus mit gewissen Schmerzen konfrontiert sind und sie aushalten müssen», schreibt sie. Sie müssten viel entschiedener auf ihren Schmerz hinweisen und liefen dann Gefahr, als «hysterisch» zu gelten.

Dem gegenüber steht das Bild des «starken Mannes», der seinen Schmerzen weniger Ausdruck verleiht. Und wenn er sich meldet, dann muss es schlimm sein.

Buchhinweis

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Eva Biringer: «Unversehrt. Frauen und Schmerz». HarperCollins, 2024.

Biringers Essay hangelt sich entlang einer Entdeckung, die den Umgang mit «weiblichem Schmerz» enttarnt: «Ein betroffener Mann bekommt Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven.»

Frauen erhalten weniger Schmerzmittel ...

Eine viel beachtete Studie zeigt, dass Frauen in der Notaufnahme weniger Schmerzmittel als Männer bekommen und im Schnitt 30 Minuten länger auf Hilfe warten.

Eine andere, gerade erschienene Studie der Universität Basel und des Universitätsspitals Basel verdeutlicht, dass Frauen nach einem Herzstillstand häufiger sterben, da sie seltener auf die Intensivstation kommen. Erforscht ist auch, dass Schwarzen Frauen geringere Schmerzen attestiert werden – aufgrund der rassistischen Annahme, dass sie robuster seien.

Die Wissenschaft ist sich also grösstenteils einig, dass Frauen im Notfall weniger Schmerzmittel und Therapien erhalten als Männer.

... und mehr Beruhigungsmittel

Aber zweifelt man auch ihren Verstand an, indem man ihnen grosszügig psychische Probleme attestiert?

Meine Erfahrung dazu: Über ein Jahr suchte ich nach einer Diagnose für meine geröteten Augen und starken Kopfschmerzen. Immer wieder fragten mich Ärzte: Haben Sie Stress? Haben Sie mal über eine Therapie nachgedacht? Natürlich hatte ich Stress, immer aufs Neue mein diffuses Leiden zu erklären. Letztlich erkannte man Herpesviren aufgrund einer zurückliegenden Infektion, die mit einem aggressiven Anti-Viren-Präparat behandelt werden mussten.

Person schläft im Bett mit Lichtstrahl auf Gesicht.
Legende: Gibt es einen «weiblichen Schmerz»? Studien zeigen, dass Frauen von Krankheiten wie Migräne häufiger betroffen sind als Männer. Getty Images/Maria Korneeva

Schmerzen werden bei Frauen schnell zu etwas Psychischem stilisiert, schreibt Biringer. Neu ist das nicht. Bereits Platon erklärte Frauen aufgrund ihrer Gebärmutter – altgriechisch: Hysteria – für verrückt.

Es ist wissenschaftlich belegt, dass Frauen nach Operationen eher Beruhigungsmittel und Männer eher Schmerzmittel verschrieben bekommen.

Tatsächlich beziehen in der Schweiz vergleichsweise mehr Frauen (65 Prozent) Antidepressiva als Männer (35 Prozent). «Frauen erhalten häufiger Psychopharmaka und erleiden doppelt so oft Nebenwirkungen, während Männer deutlich häufiger Suizid begehen», sagt Christine Bigler, Geschlechterforscherin an der Universität Bern.

Gendermedizin statt Bikinimedizin

Wenn bei Frauen öfters und fälschlicherweise Depressionen und bei Männern wiederum zu wenige erkannt werden, ist das auch ein Problem mangelnder Forschung.

Der Ausdruck Bikinimedizin beschreibt eine Heilkunde, die bei weiblichen Beschwerden zunächst an die Geschlechtsorgane denkt. Der Rest des Körpers entspricht dem eines kleinen Mannes. Dieser Blickwinkel entstand, weil Männer jahrhundertelang nur an Männern forschten.

Das neuere Forschungsgebiet der Gendermedizin strebt eine optimale medizinische Versorgung für alle Geschlechter an. Daraus hervorgehende Erkenntnisse helfen, «weiblichen Schmerz» medizinisch und im Kontext soziokultureller Faktoren besser zu verstehen.

«Wenn wir Gesundheit anschauen, müssen wir immer das biologische und das soziale Geschlecht anschauen», betont Christine Bigler. Mit Blick auf den biologischen Körper beeinflussen beispielsweise Hormone, wie Medikamentenwirkstoffe im Körper umgewandelt werden. Das wird erst seit einigen Jahren berücksichtigt. Auch weil man lange Zeit behauptete, es sei zu kompliziert, den weiblichen Zyklus in Studien miteinzubeziehen.

Mithilfe des Konzepts Gender, also dem gelebten und gefühlten Geschlecht, können Zuschreibungen an Frauen und Männer und soziale Rollen benannt werden. So wird vermutet, dass der Grund, warum Frauen häufiger eine Rehabilitation abbrechen, darin liegen könnte, dass sie sich in der Regel um die Kinder oder kranke Angehörige kümmern müssen, sagt Bigler.

Die Forschung holt langsam auf

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«In der klinischen, akademischen und in der Grundlagenforschung sind Frauen heute immer noch unterrepräsentiert», sagt Geschlechterforscherin Christine Bigler.

Ein kleiner Fortschritt sei eine neue Plattform, die die Etablierung von Sex- und Genderaspekten im Medizinstudium stärke. «Wie diese Angebote an medizinischen Fakultäten integriert sind, hängt zum Teil von einzelnen Personen ab, die das Thema als wichtig erachten oder nicht», sagt Bigler. Laut den befragten Expertinnen fliesse es noch zu wenig ein.

An der Universität Lausanne gibt es seit 2019 eine Professur für Gendermedizin, an der Universität Zürich seit knapp einem Jahr. Ein nationales Forschungsprogramm fördert seit diesem Jahr Projekte zu gendersensibler Gesundheitsforschung. Ein Anfang, meint Bigler. Aber: «Es muss noch sehr viel aufgeholt werden.»

Ebenso würden bei Männern, weil sie nicht darüber sprechen, weniger Depressionen erkannt.

10 Jahre bis zur Endometriose-Diagnose

Dass Frauen ihre Schmerzen still akzeptieren, kenne ich auch aus meinem Umfeld. Wenn bei meiner Freundin die ersten Anzeichen der Periode fühlbar sind, setzt bei ihr ein routinierter Notfallplan ein. Schmerztablette, Bettflasche, Rückzug. Die Schmerzen zwingen sie manchmal mehrere Tage ins Bett. Sie vermutet: Endometriose.

Frau liegt mit Wärmflasche im Bett.
Legende: Periodenschmerz wird von der Gesellschaft oft als normal abgetan, auch wenn eine ernsthafte Erkrankung wie Endometriose oder das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) dahinter stecken kann. Getty Images/martin-dm

Je nach Schätzung leiden zwischen 8 und 15 Prozent der Frauen an Wucherungen, die ausserhalb der Gebärmutter anwachsen und oft unter starken Schmerzen abgestossen werden. In der Schweiz soll jede zehnte Frau betroffen sein.

Endometriose ist bislang nicht heilbar. Die Symptome sind von Frau zu Frau unterschiedlich. Warum es sie gibt? Man weiss es nicht. Eine weitere Forschungslücke im Bereich «Frauenkrankheiten».

Medizin muss gerechter werden

Meine Freundin weiss bis heute nicht, ob sie an Endometriose leidet. Für eine sichere Diagnose müsste sie eine Bauchspiegelung im Spital durchführen lassen. Die Kostenübernahme durch Krankenkassen ist nicht garantiert.

Frauen werden in der Medizin systematisch benachteiligt. Und auch wir selbst wollen oft nicht dem Klischee der leidenden Frau entsprechen. Infolgedessen werten wir den eigenen Schmerz ab, verdrängen ihn.

Wenn Frauen nicht geglaubt wird: die Philosophie dahinter

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Um Ungerechtigkeiten in der Medizin besser zu verstehen, lohnt sich der Blick in die Philosophie. Die britische Philosophin Miranda Fricker machte mit ihrem gleichnamigen Buch das Konzept der «Epistemischen Ungerechtigkeit» weltbekannt.

«Bei der epistemischen Ungerechtigkeit geht es darum, dass eine Person nicht vollständig, als wissendes Wesen anerkannt wird», erklärt Rebecca Papendiek, die an der Universität Luzern zur epistemischen Situation chronisch kranker Menschen forscht. Die Epistemologie ist die Lehre vom Wissen und der Erkenntnis.

Frauen erfahren in der Medizin oft Ungerechtigkeit, etwa wenn man ihrem Schmerzwissen nicht glaubt, weil sie Frauen sind. Fricker bezeichnet diesen Glaubwürdigkeitsverlust aufgrund von Vorurteilen als «Zeugnisungerechtigkeit».

Eine Sprache für den Schmerz

In Studien geben Endometriose-Patientinnen an, dass ihren Beschreibungen jahrelang nicht geglaubt wurde. Man sagte ihnen, sie bildeten sich den Schmerz nur ein oder er sei eben normal. «Die Zeugnisungerechtigkeit erklärt hier, warum sich die Diagnose in der Regel sieben bis zehn Jahre hinauszögert», sagt Papendieck. Der Grund für das Kleinmachen «weiblichen Schmerzes» seien Machtverhältnisse. Daran geknüpft ist ein verhängnisvoller Kreislauf.

Rebecca Papendieck erklärt, dass in einer gerechten Welt alle Personen gleichen Zugang zu Wissen haben und dieses mit ihren Perspektiven und Begriffen mitgestalten sollten. In der Realität werden marginalisierte Menschen jedoch aktiv von diesen Prozessen ausgeschlossen.

Für spezifisch «weibliche Erfahrungen» wie sexuelle Belästigung, postpartale Depression oder eben Endometriose gab es lange Zeit keine Begriffe. Den Betroffenen fehlte deshalb die Möglichkeit, ihre Erfahrungen verständlich zu machen. «Wenn Erfahrungen von Frauen nicht ernst genommen werden und so nicht zum gemeinsamen Wissen beitragen können, dann verhindert man aktiv, dass ihr Wissen Veränderungen anstossen kann», sagt Papendieck.

Alle Expertinnen, die in diesem Text zu Wort gekommen sind, sind sich einig: Die Medizin muss gerechter werden. Es braucht mehr Begriffe, Schmerzerfahrungen von Frauen zu benennen. Sie müssen mehr gehört werden. Damit sich Frauen, aber auch queere und nicht-binäre Menschen trauen, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen.

Was meine neue Gefährtin, die Kupferspirale, angeht: Wir haben uns gut arrangiert. Trotzdem hoffe ich sehr, dass es bald mehr Verhütungsmittel für den Mann gibt.

Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 21.2.2025, 6:54 Uhr

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