«Ich habe Angst vor meiner Zukunft», sagt Daria Wüst. Die 24-Jährige hat gerade ihren Master in Molekularbiologie gemacht. Dann habe sie gemerkt, wie schlecht es der Welt gehe und dass die Regierung das komplett ignoriere.
«Dabei sterben Menschen», seufzt sie. «Pakistan wird überflutet, Kenia trocknet aus. Ich kann keine Zukunft planen, weil ich nicht weiss, ob wir überhaupt eine haben.» Wüst hat sich der Gruppe «Renovate Switzerland» angeschlossen.
Daria Wüst ist mit ihren Sorgen nicht allein. Für 39 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer ist die Umwelt laut einer Blick-Umfrage ihre grösste Sorge. Keine weit entfernte, sondern zu beobachten vor der eigenen Haustür. Gletscher sind verschwunden. Vom Rhein war dieses Jahr stellenweise das trockene Flussbett zu sehen.
Die Technologie wäre da
«Wir zerstören unsere Lebensgrundlagen. Wir tragen dem Haus keine Sorge, in dem wir leben», sagt Klima-Aktivist Peter Tillessen. «Das Umweltbewusstsein war in mancher Hinsicht in den 1980er-Jahren weiter als heute – mit dem sauren Regen, dem Waldsterben oder der schon damals bekannten Klimaerwärmung. Es gab bereits damals ein waches Bewusstsein für die natürlichen Grenzen unseren Handelns.»
Dann sei der Rückzug ins Private gekommen und die Menschheit habe 40 Jahre verschlafen. «Die Wissenschaft hat schon damals gewarnt. Wir haben zu lange gewartet. Daher ist das Problem heute leider mit kleinen Korrekturen nicht mehr zu beheben.»
Wenn man die Zahl der Ölheizungen mit denen von Solarpanels vergleiche, sei das niederschmetternd, sagt Daria Wüst. «Dabei ist die Technologie da. Es braucht andere Weichenstellungen der Politik.»
«Stark infantile Züge»
«Renovate Switzerland» ist eine junge Bewegung, die mit Aktionen von sich reden macht: Kunstwerke werden mit Lebensmitteln beworfen. Oder Aktivistinnen und Aktivisten kleben sich an Bilderrahmen oder auf Strassen, so geschehen etwa in Zürich und Lausanne.
«Der Klima-Aktivismus ist im Moment das alles beherrschende Thema», sagt derJournalist Knut Cordsen. «Das Vorgehen leuchtet aber bei Weitem nicht allen ein.» Cordsen hat gerade ein Buch über 100 Jahre Aktivismus publiziert und hält wenig von diesem «Bekleckern und Ankleben», wie er es nennt.
Diese Aktionen haben für Knut Cordsen «stark infantile Züge». Sie erinnere die sogenannte «Mehrheitsgesellschaft» eher an Kinder, «die Rabatz machen». Laut einer Spiegel-Umfrage von Anfang November lehnen 86 Prozent der Deutschen diese Art von Aktionen ab.
Der emeritierte Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder ordnet das anders ein. Die übergreifende «Renovate»-Bewegung des zivilen Widerstands habe hierzulande zuerst in der Westschweiz etwas Fuss gefasst. «Die Aktiven versuchen mit spektakulären Aktionen auf die Überlastung der Umwelt aufmerksam zu machen, und da gibt es natürlich auch Kritik. Aber ich will in dieses Lamento nicht einstimmen.»
Mäder freut sich «immer, wenn sich Menschen gewaltfrei für die Umwelt engagieren.» Die störenden Aktionen seien das eine. Für ihn ist das Thema dahinter wichtiger: die Klimakrise. Und da bestünden unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu engagieren und weitere Bevölkerungskreise zum Mitmachen zu ermuntern.
Wobei das Ziel schon sein müsse, Menschen nicht einfach heroisch zu brüskieren, sondern zum Mitdenken und Mittun anzuregen.
Nichts als Aktionismus?
«Der Wurf mit Tomatensuppe auf van Goghs ‹Sonnenblumen› ist weltweit millionenfach geklickt worden. «Aber dabei bleibt es. Wir reden nur über die Aktion, nicht über das Klima», sagt Knut Cordsen.
Für Knut Cordsen könnten die Strassenblockaden aber auch kontraproduktiv sein. «Da sind einige betroffen, die die Ziele der Aktivistinnen und Aktivisten unterschreiben würden, aber von der Aktion schlichtweg genervt sind.»
Soziologe Ueli Mäder glaubt das nicht: «Durch das Genervt-Sein lässt sich niemand von seinem Klima-Engagement abhalten.»
Ohne Druck kein Dialog
«Es setzt etwas in Bewegung», sagt Daria Wüst, die Aktivistin. «Menschen, die bislang nur besorgt waren, fragen mich, was sie konkret tun können.»
Ihr Kollege Tillessen hat beobachtet, dass es bei Blockaden «immer wieder Unterstützung von Seiten der Autofahrenden und Passanten gibt, auch wenn von der Presse lieber darüber berichtet wird, wie Autofahrende Transparente von Brücken schmeissen.»
Auch Cécile Bessire, Pressesprecherin von «Renovate Switzerland» widerspricht Cordsen. Es werde sehr wohl über die Ziele, nicht nur über ihre Aktionen berichtet, wie ihre interne Presseauswertung zeige. Ihre Forderungen würden so publik, und sie hätten starken Zulauf.
Jeder und jede Zweite in der Schweiz kenne sie bereits. «Der Druck auf die Politiker, die wiedergewählt werden wollen, muss so gross werden, dass der Bundesrat unseren Forderungen nachgibt und den Dialog auf Augenhöhe mit uns sucht», sagt Daria Wüst.
Eskalation ja, Gewalt nein
Diesen Dialog lehnte die scheidende Bundesrätin Simonetta Sommaruga ab. Bis zum Ende ihrer Amtszeit habe sie dafür keine Zeit, teilte sie im Vorfeld des Klimagipfels in Scharm-el-Scheich mit. Dessen deprimierende Ergebnislosigkeit «zeige einmal mehr, dass Beschlüsse kaum gefasst und dann nicht umgesetzt werden», sagt Daria Wüst.
Deswegen will «Renovate Switzerland» weiter eskalieren. Auch mit radikaleren Aktionen, weil «sich die Aufmerksamkeit verbraucht, wenn man etwas fünfmal wiederholt.» Bei allem gelte das Gebot der Gewaltfreiheit, sagt Pressesprecherin Bessire. Die Konfrontation scheint festgefahren.
Rückblende: Es war einmal in Kaiseraugst
Das gab es so ähnlich schon mal, da kam aber Bewegung in die Sache. 1975 kam es zu Protesten von Bürgerinnen und Umweltverbänden gegen das Atomkraftwerk in Kaiseraugst und zur Besetzung der Baustelle.
Der emeritierte Soziologieprofessor Ueli Mäder war vom ersten Moment an dabei. «Morgens um 6 Uhr habe ich unsere Tochter auf die Schultern genommen, wir sind auf einen Bagger gestiegen und haben das Gelände mitbesetzt.»
Als die Bauarbeiter kamen, habe er ein mulmiges Gefühl gehabt. An einem nächsten Wochenende kamen 10 bis 15'000 besorgte Bürgerinnen und Bürger an die Kundgebung.
«Plötzlich stand mein Vater neben mir, wir wussten beide nicht, dass wir uns da treffen», erinnert sich Mäder. Ein freisinniger Fabrikant habe Schokolade gebracht, und der Direktor der Landwirtschaftlichen Schule, der bei der Bauern- und Gewerbepartei politisierte, sei ebenfalls gekommen. «Es war ein breites Bündnis.»
Im «Bericht vor 8» von SRF heisst es, es seien auch Unterstützende aus Deutschland und Frankreich angereist. Ein Aktivist sagt: «Weil wir in Notwehr handeln müssen, übertreten wir dazu auch Gesetze.» Gewaltfrei blieb es.
Die Demo als Klassenausflug
In Kaiseraugst war auch ETH-Dozent und alt Nationalrat Rudolf Rechsteiner dabei. Seine Klasse sei bei einem Alarm «nach Kaiseraugst geeilt und habe auch gleich den Griechischlehrer mitgeschleppt.»
Auch Rechsteiner erinnert sich an dieses breite Bündnis, aber ansonsten könne man damals und heute kaum vergleichen. «Damals ging es um den lokalen Stopp eines AKW und Widerstand gegen eine Technologie mit – wie sich bald zeigte – unbeherrschbaren Risiken.»
Heute gehe es um globale Fragestellungen mit vielen Verursachern und ebenso vielen potenziellen Opfern, sagt Rechsteiner. Viele Politiker und die Industrielobby hätten Jahre damit verbracht, mit dem Finger auf andere zu zeigen nach dem Motto: «Wir können das globale Problem nur lösen, wenn alle mitziehen, was zur Blockierung wirksamer Anstrengungen führte».
Kaiseraugst sei bottom-up von der Basis aus gestartet, sagt Rudolf Rechsteiner. Heute brauche es auch Strategien, die generell auf eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaft abzielen, und auf eine Isolierung der «Täterbranchen» durch Wechsel auf 100 Prozent erneuerbare Energien.
Schwierigkeiten und Lösungsansätze
Knut Cordsen sagt, der Ernst der Lage müsse allen klar sein. In Kaiseraugst war es das, beim Klima ist das auch der Fall. Es gebe ausserdem Faktoren, sagt Soziologe Mäder, die dazu beitragen könnten, dass die Bewegung eher reüssiere.
Mäder erinnert sich an Plakate, auf denen stand: «Leben statt Profit». Sie drückten nicht nur das Politische «Wir sind dagegen» aus, sondern auch eine Vision, wofür wir sind. Ein Leben ohne Profit. Das Verknüpfen des Politischen mit den Lebenswelten der Demonstrierenden. Das hat geholfen.»
Politikerinnen und Politiker können sich problemlos unseren Aktionen anschliessen.
Weniger kann also auch mehr sein, weniger Konsumquantität mehr Lebensqualität bedeuten. Gute Voraussetzungen seien eigentlich da, meint Mäder. «Viele sind heute weniger ideologisierend und polarisierend als wir damals.»
«Der Feind steht im Keller»
Sie hätten ‹Das Kapital› von Karl Marx zweimal gelesen, meinten die Welt erklären zu können und seien stärker vom dualistischen Entweder-oder der industriellen Moderne geprägt gewesen, sagt Mäder. «Heutige Jugendliche sind mehr in einem pluralisierten Kontext sozialisiert. Ihnen geht es primär darum, Umweltprobleme fundiert und differenziert anzugehen.»
Deshalb leuchten Rechsteiner die weit verbreiteten Feindbilder in der aktuellen Klimadebatte umso weniger ein. Der jungen Generation gehe es um die Umwelt, nicht um links und rechts, umso mehr also auch um industrielle Investitionen, sagt der alt Nationalrat. «Zum Beispiel in die Solar- und die Windindustrie – entscheidende Beiträge an den Klimaschutz leisten.»
«Sexy Lösungen» in Sicht
Laut Knut Cordsen präge ein «grimmiger Aktivismus» den Diskurs, der zudem religiös aufgeladen sei: Die Klimaschützenden predigten jenen die Apokalypse, die sowieso schon bekehrt seien und machten Politiker zu Sündenböcken. Diese «Vonobenherabheit», wie Kurt Hiller, ein Aktivist der ersten Stunde, das 1919 nannte, befördere die Dinge kaum.
Man kann die demokratischen Abläufe nicht kurz ausser Kraft setzen, um Entscheidungen zu treffen
Rudolf Rechsteiner geht einen Schritt weiter: «Aktivistinnen und Aktivisten sollten nicht mit dem Damoklesschwert herumfuchteln, sondern sexy Lösungen verkaufen». Jene etwa, «dass Umweltschutz sich rechnet. Dass sich in den letzten 20 Jahren viel getan hat. Dass die Wirtschaft heute in der Lage ist, rentable Lösungen bereitzustellen.»
Und noch ein Rechsteiner-Ratschlag: «Es hilft, auf Feindbilder zu verzichten.» Nicht alle Politiker seien blöd, sagt der langjährige SP-Nationalrat, man könne sie mitnehmen. «Renovate»-Aktivistin Daria Wüst findet, «Politikerinnen können sich problemlos unseren Aktionen anschliessen.»
Die feinen Unterschiede
Der gravierendste Unterschied zwischen dem zivilen Widerstand in Kaiseraugst und dem heute ist, dass der in Kaiseraugst ein Widerstand mit direkten Auswirkungen auf das Vorhaben war.
Baumaschinen besetzen, Zufahrtswege versperren: Das bewirkte direkt etwas. Bilder mit Tomatensuppe zu bewerfen bewirkt – wenn überhaupt – indirekt etwas. «Renovate»-Aktivistin Daria Wüst sagt, die Demokratie sei zu langsam, bis man von der Petition zur Umsetzung gelange. Aber ob man mit Suppe schneller ans Ziel gelangt?
Laut Knut Cordsen sollte man Zeitnot und Demokratie «nicht in Opposition bringen. Man kann die demokratischen Abläufe nicht kurz ausser Kraft setzen, um Entscheidungen zu treffen.» Rudolf Rechsteiner hält das «im Land der Basisdemokratie und Partizipation für doppelten Blödsinn». Damit verliert man die demokratische Mitte.
Aller Anfang ist Auseinandersetzung
Ueli Mäder plädiert für «eine aktive Besonnenheit, ohne Probleme auf die lange Bank zu schieben.» Nicht heute handeln und morgen denken, weil die Zeit dränge. Wenn man überhastet zu Lösungen kommen wolle, ohne Ursachen zu ergründen, schiesse man über das Ziel hinaus.
Besonnenheit meint, nicht nachzulassen. Ganz im Gegenteil: Auseinandersetzungen seien beharrlich zu führen, sie seien wichtig und öfters sogar verbindend. Mäder erinnert sich an ein Graffiti in der Berner Altstadt: «Wir scheitern nicht an Niederlagen, die wir erleiden, sondern an den Auseinandersetzungen, die wir nicht wagen».
Auseinandersetzungen sind in diesem Fall buchstäblich notwendig. Sie sind die Grundlage der Demokratie.