Die Aufregung muss gross gewesen sein, als 1890 das Seebad Utoquai in Zürich in Betrieb ging. Im Vorfeld wurden Stimmen laut, die sich gegen das Bad wehrten. Zwar war es allgemein bekannt, dass Baden gesund sei, aber die Kritiker «sorgten» sich nicht um das neue Bad, sondern um die Frauen.
In der «NZZ» vom 8. Oktober 1887 räsonierte ein einfühlsamer Schreiberling, dass «unsere Frauen und Mädchen (…) nie und nimmer das freie Leben des Meeresstrandes sich angewöhnen». Und überhaupt: Frauen würden sich sowieso nicht in die «frische Flut des wilden Sees» trauen.
Strikte Trennung
Trotz aller Bedenken liess die Stadt das Bad am östlichen Seeufer bauen. Auf Holzstelzen errichtete sie mehrere Badhäuschen direkt über dem Wasser, auch eines für die Frauen.
Es galten klare Regeln. Frauen, Männer, Mädchen und Buben mussten strikt getrennt baden. Holzwände auf allen Seiten schützten die Badenden vor neugierigen Blicken.
Klare Hierarchien
«Diese frühe Form der Badeanstalt heisst Kastenbad», erklärt Patrick Schoeck, Kunsthistoriker und Leiter der Abteilung Baukultur beim Schweizer Heimatschutz. «Die Architektur widerspiegelt das Denken der damaligen Gesellschaft.»
Es war eine Zeit, die Pflicht und Ordnung kannte und den Geschlechtern klare Positionen in der Hierarchie zuwies, im Alltag wie auch beim Baden.
Aus Mangel an Badezimmern
Patrick Schoeck hat sich mit der Geschichte der Bäder und deren Architektur befasst, die eng mit der Urbanisierung der Schweiz verknüpft ist: So seien Ende des 19. Jahrhunderts die Badeanstalten in den Städten vor allem Orte für die Körperhygiene gewesen. Denn: Badezimmer gab es damals erst vereinzelt.
Nach dem Ersten Weltkrieg sorgten die Badeanstalten für Gesprächsstoff. Die Zeit des Kastenbads war vorbei, ein neuer Baustil kam auf. Jetzt wollte man grosszügige Frei- und Strandbäder errichten. Und langsam aber sicher die alten Konventionen abstreifen.
Das «Schandbad» von Weggis
Damit waren nicht alle einverstanden: Weggis am Vierwaldstättersee zeigte sich progressiv und richtete 1919 ein offenes und geschlechtergemischtes Strandbad ein – das erste in der Schweiz dieser Art.
Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Bald hiess es: Das Lido Weggis sei ein «Schandbad». Doch die Lust am Baden überwog, das Lido gibt es heute noch.
Badeanstalten im Betonkleid
An solchen Geschichten lässt sich einiges über das damalige Denken ablesen. Für Patrick Schoeck sind die Badis denn auch viel mehr als nur ein Freizeitvergnügen. Sie würden massgeblich zur Identität der Schweiz beitragen.
Er räumt aber ein: «Nicht jede Badi hat mit ihrer Architektur einen Preis verdient.» Damit sind besonders die zahlreichen Bauten aus Sichtbeton gemeint, die in den 1960er- und 1970er-Jahren, auch als Reaktion auf die teils unsauberen Gewässer, entstanden.
Planschen fürs Vaterland
Dennoch: «Baden gehört zur Schweiz», hält Schoeck fest und resümiert: «Wir dürfen stolz sein auf dieses kulturelle Erbe.» Er zählt auf, was jede Gemeinde ausmachte: Kirche, Rathaus – und dann käme schon die Badi.
Bis heute ist das Baden eine Art Volkssport geblieben. Dass es die Schweiz ernst damit meint, beweist der Entscheid des Bundesamtes für Kultur, welches das nasse Vergnügen auf die Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt hat. Allerdings nicht das Badi-Baden, sondern das in Rhein und Aare. Ein neues Kapitel der Badekultur hat begonnen.