Zum Inhalt springen
Audio
Wie der Krieg in der Ukraine die Kunst verändert
Aus Kultur-Aktualität vom 06.11.2023. Bild: IMAGO / Ukrinform
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 30 Sekunden.

Kulturszene in der Ukraine Aus der russischen Rakete erklingt der «Sound des Todes»

Seit dem russischen Angriffskrieg boomt die Kulturszene in der Ukraine. Gleichzeitig kämpft sie ums Überleben. Die Werke verdeutlichen den Schmerz, den Verlust und die Zerstörung im Krieg.

Das Kiewer Khanenko-Museum ist gut besucht. Dabei gibt es aktuell nicht viel zu sehen. Im Herbst 2022 hatte eine russische Rakete die Front der prachtvollen Gründerzeitvilla stark in Mitleidenschaft gezogen, die Instandsetzungsarbeiten halten an.

Leere Vitrinen
Legende: Leere Vitrinen zeugen davon, was im Krieg übrig bleibt: nichts. Christine Hamel

Die bedeutende Sammlung war zum Glück zuvor evakuiert worden – das Khanenko-Museum zeigt deshalb derzeit seine leeren Wände, leeren Vitrinen und verwaisten Beschriftungsschilder – ein Ort massiver Veränderungen und einer unwägbaren Zukunft. Darin sollen die Besuchenden ein Sinnbild für die ganze Ukraine sehen.

Oper mit verwaisten Instrumenten

Die beiden Komponisten Roman Grygoriv und Illia Razumeiko haben in den verwaisten Museumsräumen eine «Oper der Erinnerung» aufgeführt – mit dem Titel «Genesis».

Eine Frau liegt nackt auf dem Boden.
Legende: In den 13 Inszenierungen von «Genesis» werden die verheerenden Folgen des Krieges für die Kultur sichtbar – so zum Beispiel ein verwaistes Klavier, getroffen von einer Rakete. IMAGO / Ukrinform

Die eindrucksvolle Inszenierung zeigt die verwaisten Instrumente: «Die Harfen, die meist von Frauen gespielt wurden, die mit ihren Kindern vor dem Krieg nach Europa geflohen sind. Wir haben nun alle Instrumente ins Museum transportiert», erklärt Illia Razumeiko. Mit dabei war auch das Klavier von Anton Baraschewskij, einem jungen, erfolgreichen Pianisten, der jetzt in Amsterdam lebt. 

So klingt der Krieg

Roman Grygoriv und Illia Razumeiko verbinden Performance, Theater und Oper zu pompösen und ekstatischen Gesamtkunstwerken, die alle Sinne überwältigen. In der Ukraine ist das keine Effekthascherei, sondern eine existenzielle Geste.

Im Kiewer «Haus der Komponisten» holt Roman Grygoriv das Skelett einer russischen Rakete hervor, die in der Nähe eingeschlagen war. Mit einem Geigenbogen holt er aus ihr den «Sound des Todes», wie er sagt. Illia Razumeiko begleitet ihn dazu am Klavier.

Ein Mann spielt Geige mit einer umfunktionierten Rakete.
Legende: Wie klingt eine Rakete? Die zu einer Violine umfunktionierte russische Rakete lässt Zuhörende darüber nachdenken. Christine Hamel

Traumabewältigung mit Kultur

Das neuste Projekt der beiden Komponisten ist die Oper «Gaia 24». Schauplatz: das Überflutungsgebiet nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms. «Wir haben unter permanentem Artilleriebeschuss gearbeitet, die Front verläuft in unmittelbarer Nachbarschaft», erzählt Illia Razumeiko.

Zwei weisse Menschen auf einem vertrockneten, weissen Boden.
Legende: Ausgetrocknete Böden, weisse Körper: So inszeniert die Oper «Gaia 24» das Leid nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms. Dabei wurden mehrere Ortschaften unter den Wassermassen begraben. Christine Hamel

«Alles, was wir jetzt machen, ist Trauma-Arbeit», fügt Roman Grygoriv hinzu und resümiert: «Der Krieg hat alles zerstört, alles wurde an einem Tag vernichtet.»

Verluste vergegenwärtigen

Ukrainische Kunst setzt gerade alles daran, den Schmerz wachzuhalten, den anhaltenden Krieg immer noch als Grauen zu begreifen und nicht als Normalität hinzunehmen. Die absurde Allgegenwart des russischen Angriffs wird beispielsweise greifbar in Zhanna Kadyrovas Serie «Angst», ausgestellt im PinchukArt-Centre: folkloristisch geknüpfte Bildteppiche, tanzende Paare unter Birken oder ein Fuchs, der sich lachend mit einem Hahn unterm Arm davonmacht. Darüber der gestickte Schriftzug «Fliegeralarm».

Stickungen zeigen 2 Personen, die miteinander tanzen.
Legende: Die detaillierten Stickmuster zeigen den Alltag in der Ukraine vor dem Angriffskrieg: den Alltag, der vielen genommen wurde. Christine Hamel

Kunst macht die Verwundbarkeit greifbar. Zhanna Kadyrova hat zudem auf einer Wand eine Liste mit zerstörten Kunstdenkmälern angebracht, stoisch nach Datum sortiert, immer mit Ortsangabe. Einerseits ein formal knochentrockenes Konzept-Kunstprojekt, andererseits eine erschütternde Verlustanzeige, Anklage und Manifest fragiler Existenz. Eine Arbeit, die eine strenge Struktur in das Chaos der Zerstörung bringt.

Auch deshalb boomt die Kunstproduktion in der Ukraine. Sie hilft dabei, das Unfassbare zu bewältigen.

Die Kultur-Highlights der Woche im Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Entdecken Sie Inspirationen, Geschichten und Trouvaillen aus der Welt der Kultur: jeden Sonntag, direkt in Ihr Postfach. Newsletter jetzt abonnieren.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 6.11.2023, 7:06 Uhr

Meistgelesene Artikel