Die Aufregung war gross vor einem Jahr, als Alain Claude Sulzer das Unterstützungsgesuch für sein neues Schreibprojekt zurückzog. Der Schriftsteller hatte ein Schreiben der Leiterin Kultur des Kantons Basel-Stadt erhalten: Sie forderte ihn auf, zu erklären, warum in seinem vom Fachausschuss Literatur unterstützten Text das Wort «Zigeuner» vorkommt. Sulzer empfand das Vorgehen als Einmischung in seine künstlerische Freiheit und sprach von Zensur.
Jetzt ist das Buch da, und das Wort selbstverständlich noch drin. Allerdings nur dort, wo es um die Sprech- und Denkweise der Leute geht, die beschrieben werden. Leute aus den 1970er-Jahren in einem Bochumer Wohnblock. Wird von heute aus erzählt, werden heutige Wörter benutzt.
Damals im Wohnblock
Ansonsten geht es um was anderes. Um Freundschaft und Sexualität, um Abschied und Tod und um die Kunst. Denn «Fast wie ein Bruder» ist nicht nur ein neuer Sulzer-Roman, in dem es um enge Männerbindungen geht, sondern wie vorher schon «Aus den Fugen», «Postskriptum» und «Doppelleben» ein Künstlerroman.
Der Ich-Erzähler, ein etwa 65-jähriger Kameramann mit Haus in Südfrankreich, erinnert sich an seine Geschichte mit dem Jugendfreund Frank. Sie wachsen zusammen auf, ziehen sogar zusammen mit ihren Eltern, die sich ebenfalls nahestehen, am selben Tag in ihren Wohnblock ein, und werden unzertrennliche Freunde.
Der Tumult im Treppenhaus
Doch dann passieren zwei Dinge, die alles verändern. Das eine ist Franks Coming-out, das unfreiwillig und in aller Brutalität über die Bühne geht. Frank wird mit einem Nachbarjungen aus einer (nicht so bezeichneten) Roma-Familie in flagranti ertappt, was im Treppenhaus einen Tumult auslöst und zum Auszug Franks führt.
Das zweite ist Franks Beschluss, Künstler zu werden. Inspiriert von einer Sigmar Polke-Ausstellung beginnt er wie besessen zu malen und zieht später nach New York, um seine Karriere voranzutreiben, was allerdings misslingt. Er bleibt unbeachtet, infiziert sich mit Aids und stirbt mit 32 Jahren.
Als Nachlassverwalter wird der Erzähler eingesetzt, der das Werk in der Remise seines Hauses in Südfrankreich deponiert und dort vergisst.
Ein Künstler namens «f»
Jahrzehnte später – und das ist auch der Grund, warum man hier von einer lebenslänglichen Freundschaft reden kann – taucht Franks Werk wieder auf. Der Erzähler kommt von einem Dreh in den USA zurück. Am Frankfurter Flughafen, wo er auf den Anschlussflug nach Frankreich wartet, liest er in der Zeitung von einer Ausstellung eines unbekannten, eben entdeckten und höchst begabten Künstlers namens «f» in einer Berliner Galerie.
Gleichzeitig erfährt er, dass die Remise auf seinem Grundstück leergeräumt ist. Bestürzt reist er nach Berlin, besucht die Ausstellung und sieht dort mitunter ein Bild Franks von sich selbst als junger Mann. Nackt und onanierend.
«Eine stille Wucht»
Alain Claude Sulzer erzählt die Geschichte der beiden Freunde unaufgeregt und sparsam. Immer hat man das Gefühl, dass da noch viel mehr drinsteckt, als der Autor zeigt. Ein paar Punkte und Striche, drei Wendepunkte im Plot und das Vertrauen auf eine Grundstimmung reichen, um diesen wunderbaren Text zu schreiben. «In stiller Wucht», wie es auf dem Buchrücken treffend heisst.
Der ganze Rummel um das eine Wort hingegen verblasst mit jeder Seite mehr. Gut so. Denn angesichts der Qualität des Romans ist der schlicht irrelevant.