Seit über zehn Jahren, seit seinem Welterfolg «Gomorrha», dem gnadenlos genauen Dokumentarbericht über die neapolitanische Mafia, muss Roberto Saviano an wechselnden Orten unter Polizeischutz leben.
Der umstrittene italienische Innenminister Matteo Salvini – von Saviano als «Minister der Unterwelt» bezeichnet – hat nun gedroht, ihm diesen Polizeischutz zu entziehen.
Appell an die Autoren
Der 38-jährige Autor, unbeirrt und unerschrocken, hat mit einem Alarmruf an die Schriftsteller und Verleger im Land reagiert (dieser erschien übersetzt in der «Süddeutschen Zeitung», Anm. d. R.). «Kommt raus! Italien braucht heute eure freien Stimmen», fordert er seine Kolleginnen und Kollegen auf.
Sein Land, so Saviano im Gespräch, habe nichts mehr mit unserem Bild von «L’Italia dolce» zu tun habe, sondern sei ein «sehr, sehr grausames Land» geworden.
Grenzenlose Grausamkeit
Im Frühjahr ist Savianos erster Roman auf Deutsch erschienen.«Der Clan der Kinder» ist eine beklemmende Geschichte über zunehmend von jungen und jüngsten Kriminellen beherrschte Mafiabanden in Neapels Altstadt. Im Vakuum, das viele untergetauchte oder im Knast verschwundene Bosse hinterlassen haben, ringen diese Kinderclans erbarmungslos um die Macht.
Auf Recherche basierend, aber bewusst fiktionalisiert, zeichnet Saviano im Roman diese «Camorra 2.0» in ihrer schwer erträglichen Grausamkeit und Verrohung. Das gipfelt in der kaltblütigen Ermordung eines Zwölfjährigen durch einen kaum Älteren.
Dabei geht es Saviano nicht allein um Neapel. Vielmehr sieht er seine Heimatstadt «als eine Art globale Metapher». Was den Halbwüchsigen dort widerfahre, erlebten ihre Altersgenossen in Berlin oder Paris genauso: «Die Arbeit hat keine Perspektive mehr. Das einzige, was zählt, ist Cash.»
Gab früher die Arbeit dem einzelnen Würde, zählt jetzt nur mehr das schnelle Geld, und dafür riskieren diese Kinder, ohne Perspektive und ohne Empathie, den Tod.
Empathie statt Entwürdigung
Hier sieht Roberto Saviano die Gesellschaft in der Verantwortung: «Wenn man sich mit 15 Jahren gegenseitig umbringt, ist die Gesellschaft dafür verantwortlich.» Alle seine Bücher, so der Autor, sollen zeigen: «Empathie kann sich nur entwickeln, wenn du ein menschliches Leben führst.»
Doch die Kinder in Neapel lebten «im Krieg – und da ist alles erlaubt.» Saviano vergleicht sie mit Kindersoldaten in Afrika und konstatiert: «Es gibt keine Regeln, kein Mitleid mehr.»
Nicht nur die Mafia, auch die Politik verroht
Früher waren Kinder für mafiöse Banden strikt Tabu. Gleichzeitig mit der Brutalisierung der kriminellen Szene zerfällt, wie Saviano besorgt registriert, die rechtsstaatliche Öffentlichkeit und die politische Kultur.
Wie im Brennglas zeige sich dies am Beispiel des Innenministers Salvini, welcher sich hemmungslos über italienisches und europäisches Recht hinwegsetze.
«Auf welcher Seite steht ihr?»
Gegen das müde oder mutlose Schweigen seiner schreibenden KollegInnen richtet Saviano seinen energischen Alarmruf:
«Schriftsteller! Angriffe auf das Buch, das Denken, das Wissen sind alltäglich geworden. Verleger! Fühlt ihr nicht, wie der Boden unter euren Füssen wankt?
Beteiligt euch! (...) Es gibt nur Komplizen oder Rebellen. (...) Ihr seid der kleine Samen der Menschlichkeit, ohne euch ist Italien verloren. Auf welcher Seite steht ihr also?»