Aljoscha ist knapp zwanzig. Ein armer Teufel. So wie die Dutzenden anderen jungen russischen Rekruten, die mit ihm im Dritte-Klasse-Abteil am Ende des Zugs der Transsibirischen Eisenbahn eingepfercht sind. Wir sind etwa im Jahr 2010. Es geht Richtung Ostsibirien in eine Kaserne der Putin-Armee, Drill zum Krieg.
Aljoscha ist die Hauptfigur im Kurzroman «Weiter nach Osten» der 57-jährigen Französin Maylis de Kerangal. Sie hat ihn 2012 im französischen Original veröffentlicht. Jetzt liegt er in deutscher Übersetzung vor.
«Aljoscha hat Schiss, sein Herz hämmert in der Brust», heisst es im Buch, «und so wie der Zug mit konstanter Geschwindigkeit vorwärtsrollt, nimmt das Entsetzen des Jungen zu: Am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen.»
Terrorsystem Armee
Aljoscha graut es vor den berüchtigten Torturen, mit denen in der russischen Armee Dienstältere die Neuen misshandeln: «mit der Zigarette den Schwanz verbrennen» oder «die Latrinen auslecken lassen» oder «am Schlafen hindern» oder «in den Arsch ficken».
«Dedowschtschina» – «die Herrschaft der Grossväter» – heisst das makabre Ritual in der russischen Armee. Es hat in den Neunziger- und Nullerjahren in der russischen Öffentlichkeit für Aufsehen und Protest gesorgt.
Aljoschas Höllenangst ist wohl auch bei den jungen Soldaten im heutigen Russland real: Es droht der Fronteinsatz im Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Beobachtungen vor Ort
Die in Paris lebende Maylis de Kerangal gibt freimütig zu, «keine Russland-Expertin» zu sein. 2010 sei sie überhaupt erstmals im Land gewesen und habe eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok unternommen. Während dieser Reise sei eine Gruppe Wehrdienstpflichtiger mitgefahren – unterwegs zum Militärdienst in Ostsibirien.
«Ich fuhr in der ersten Klasse», erinnert sich de Kerangal, «die jungen Männer waren in einem Dritt-Klass-Abteil am Ende des Zugs eingepfercht». Dieser Gegensatz im Zug habe sie beschäftigt. Hier die Touristin auf Ferienreise. Dort die jungen Männer, grosse Kinder, auf welche der Horror der «Dedowschtschina» wartete.
«Ich versuchte, dieses gegensätzliche Geschehen im Zug zu erfassen», erinnert sich de Kerangal. Und es literarisch in Verbindung zu setzen mit Beschreibungen der sibirischen Landschaft. Ihr würde mit den endlosen Weiten und undurchdringbaren Wäldern etwas Unmenschliches anhaften, sagt de Kerangal.
Unerwartete Hilfe
Maylis de Kerangals Figur Aljoscha ist fiktional. Der Rekrut will sein Los nicht hinnehmen und fliehen. Ein tollkühnes Vorhaben. Doch er bekommt unverhofft Unterstützung – von einer französischen Touristin in der Luxusklasse. Das fiktive Alter Ego der Autorin? Sie versteckt den Fahnenflüchtigen in ihrem Abteil vor den Häschern des Regimes.
Weshalb die Französin diesem Wildfremden in Uniform beisteht, bleibt ihr Geheimnis. «Vermutlich erkennt sie in Aljoscha ein verletzliches menschliches Wesen», sagt Maylis de Kerangal. «Indem sie ihm hilft, erweist sie sich selbst als Mensch.»
Maylis de Kerangals Roman ist packend. Er bewegt sich literarisch auf höchstem Niveau. Und er ist zuletzt durchdrungen von einer beglückenden Note: Selbst in elenden Umständen kann bisweilen das Gute aufscheinen – und am Ende vielleicht gar obsiegen.