Krimis sind eine Sucht. Das Verlangen nach «Detektivgeschichten» verglich der Lyriker W.H. Auden mit Alkoholismus. Auden unterbrach seine Lektüren weder fürs Schlafen noch fürs Arbeiten. Und war die letzte Seite einmal umgeblättert, war es vorbei. Nichts von der Handlung ist ihm hängengeblieben.
Der Lyriker gestand seine Abhängigkeit 1948. Heute sind im Büchermarkt «Schwedenkrimi» und «Nordic Noir» bereits seit einigen Jahren stehende Begriffe.
Für manche wiederum ist der gemeinschaftliche Fernsehkrimi am Sonntagabend das letzte, was diesen Tag speziell macht. Der «Tatort» gehört so selbstverständlich zum Sonntag wie einst der Messebesuch. Der Krimihype ist stabiler als die Wirtschaft und hält an.
Ganz reales Mitfiebern
Längst beschränkt sich die gesteigerte Faszination für erzähltes Verbrechen auch nicht mehr auf die Fiktion: Seit 2014 der US-Radiopodcast «Serial» gestartet und in den folgenden Jahren mehr als 340 Millionen Mal heruntergeladen worden ist, erleben sogenannte «True Crime»-Formate, also Geschichten rund um wahre Verbrechen, einen Aufschwung.
Einige der «True Crime»-Podcasts, Magazine und Netflix-Serien verstehen sich als Teil der Ermittlung und Aufarbeitung von Verbrechen; andere sind unverhohlen voyeuristisch. Je mehr Szenen von körnigen Überwachungskameras im Film gezeigt oder je mehr Aufnahmen aus dem Polizeiverhör im Podcast abgespielt werden, desto mehr wohligen Schauer empfindet das Publikum, die Hörerin, der Leser.
«So können wir im geschützten Rahmen eine ästhetische Erfahrung von Schrecken durchleben», erklärt die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Sie spricht beim einsetzenden Gefühl von «Secondhand-Angst». Ob das Gezeigte fiktiv ist, auf wahren Begebenheiten beruht oder gar mit dokumentarischem Anspruch antritt, sei da wohl zweitrangig.
«Jenseits von moralischen Kategorien sind Mörder keine faszinierenden Persönlichkeiten», sagt Bronfen. «In der Literatur werden sie manchmal als solche stilisiert, weil man etwas an ihnen aufzeigen will.» So bei André Gide oder Jean-Paul Sartre, wo Mörder als Subjekte von geradezu beispielhafter Freiheit dargestellt werden.
Wie wird ein Mensch zum Mörder?
Catherine Graber ist Polizeipsychologin, Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und forensische Gutachterin. «Als Gutachterin ist meine Aufgabe einzuschätzen, welches Risiko von einem Täter ausgeht und was es braucht, damit er nicht rückfällig wird.»
Dabei interessiere sie jeder Fall für sich. «Jeder Fall ist ein Einzelfall und bringt eine grosse Verantwortung mit sich. Man muss sich mit der Person, die man begutachtet, auseinandersetzen. So erfährt man, wie sie tickt. Das ist die Grundlage, um nachzuvollziehen, wie es zur Tat kommen konnte.»
Die Neugier auf die Menschen hinter den Taten ist ein wichtiger Faktor in ihrem Beruf. Dass sich die Öffentlichkeit für die Täter (und seltener die Täterinnen) interessiert, erscheint Graber logisch: «Verbrechen bis zum Mord sind die extremste Variante von Sozialverhalten.»
Manchmal berät Graber eine befreundete Krimiautorin in Fragen der Glaubhaftigkeit einer Geschichte. «Meist geht es darum: Kann ein Täter, der eine Art Delikt begeht, danach etwas ganz anderes tun?».
In der Realität ziehe sich gewisses kriminelles Verhalten als «eine Art roter Faden durchs Leben», während in der Fiktion um der Spannung willen oft sehr verschiedene Taten vermischt würden. «Es begeht niemand erst einen Raub, dann einen Sexualmord und vertreibt später noch Kinderpornografie. Zumindest ist es sehr unwahrscheinlich», so Graber.
Unsere Ängste hypothetisch erleben
Für das zwiespältige Gefühl, das Bronfen «Secondhand-Angst» nennt, benutzt Graber den psychologischen Fachbegriff «Angstlust». Sie weiss genau, wie sich das anfühlt: «Wenn ich einen Krimi schaue, halte ich es fast nicht aus», erzählt sie.
Sie halte die Hände vors Gesicht und schiele zwischen den Fingern hindurch. Das Geschehen ist schmerzhaft, die Spannung spürbar – und trotzdem bleibt es ein gemütlicher Abend. Das Sofa ist sicher, die Wohnung ebenso.
Moral ist fehl am Platz
Sobald der Abspann kommt oder der Buchdeckel zugeschlagen wird, ist es ohnehin vorbei. Das, was nach den bangen Momenten vor dem Fernseher passiert, erklärt Graber folgendermassen: «Hinterher ist die Angst, von der man nicht selbst betroffen ist, vorüber. Man hat aber etwas miterlebt und dadurch ein Erfolgserlebnis.»
Wenn Graber mit einem Fall betraut ist, fälle sie – anders als es bei Krimis dazu gehört – keine moralischen Urteile. Sie ist der Meinung, dass die Arbeit von Sachverständigen wie ihr und die gesellschaftliche Debatte zwingend komplett getrennte Sphären sein sollten.
Wir sind alle voyeuristisch
Ganz anders spricht der Psychoanalytiker, Psychiater und Gutachter Mario Gmür über diesen und alle anderen Berufe in der Strafverfolgung und Justiz: «Wer forensisch tätig ist, ob als Polizistin, Richter oder als Gutachterin, befriedigt damit das Interesse an Taten, die man selber nicht begehen muss. Und das erst noch straffrei und entlöhnt!»
Wenn das bei dieser Berufsgruppe so ist, wie verhält es sich dann beim Krimiautor, der sich Morde und Mörder ausdenkt? Gmür nennt es «eine gutartige Bewältigung von eigenen Aggressionen und Trieben».
Vielleicht gebe es eben Menschen, die sich Verbrechen ausmalen, statt sie zu begehen. Gmür schmunzelt etwas, als er das sagt. Jedenfalls spiele auch beim Schreiben von Krimis Voyeurismus und Sadismus mit rein. «Für die Leserinnen und Leser wiederum ist es ein Ratespiel: Wer war’s?», sagt Gmür. Geht es um wahre Verbrechen, verlagere sich diese Frage einfach ins reale Leben.
«True Crime» fasziniere stärker als fiktive Krimis, glaubt Gmür: «Das Kribbeln ist stärker, wenn es ans Lebendige geht.» Anstelle eines Gedankenexperiments, erlebt man das Geschehen «nicht nur im Labor, sondern in vivo».
In Krimis dient der Täter als Verkörperung des Bösen. Doch das ganze Spektrum der Charaktere sei faszinierend: «Wir können uns in das Opfer einfühlen, in den Verbrecher und auch in den, der ihn jagt – und von Szene zu Szene zwischen den Identifikationsmöglichkeiten hin- und herhüpfen», meint Gmür. Man fiebert mit den Figuren mit – und erkennt in ihnen Unterschiede und Überschneidungen zum gesellschaftlichen Kontext, dem man angehört und den man selbst erlebt.
Gesellschaft ist bei jedem Mord dabei
Obwohl sich der Lyriker W.H. Auden hinterher nie an die Handlung erinnern konnte, gelang es ihm, seine Sucht nach «Detektivgeschichten» sehr produktiv zu nutzen: Sein Essay über Mörder, Krimis und deren Leserschaft birgt viele scharfsinnige Analysen.
Gemäss Auden nimmt bei jedem Mord die Gesellschaft die Rolle als Stellvertreterin des Opfers ein. Anstelle der Toten entscheide die Gesellschaft – durchaus auch losgelöst von der Bestrafung –, ob dem Täter vergeben wird. Deshalb sei Mord das ideale oder gar einzige Verbrechen für «Detektivgeschichten».
«Das Interesse am Studium eines Mörders gründet in der Beobachtung der Leiden des Schuldigen durch die unschuldigen Vielen. Das Interesse an einer ‹Detektivgeschichte› besteht in der Dialektik von Unschuld und Schuld», heisst es in Audens Essay. Wie im klassischen Theater durchlebe man bei der Aufklärung des Verbrechens einen Reinigungsprozess – und das gleich mehrfach.
Gerechtigkeit für Gesetzesbrecher?
«Nicht nur der Täter ist schuldig», sagt Literaturprofessorin Elisabeth Bronfen. «Das Opfer ist einmal eine verruchte Frau, mal ein Mann, der in schmutzige Geschäfte verwickelt ist.» In fiktiven Krimi-Szenarien gibt es keine Zufälligkeiten. Erst treffe der Mord ein schuldiges Opfer, dann sorge dessen Aufklärung und womöglich eine Strafe für den Täter als Ausgleich gegenüber der Gesellschaft.
Dabei werden moralische Fragen verhandelt und das Publikum kann diese durchlaufen, ohne ein Risiko einzugehen: «Es geht also um mehr als um das Schauergefühl, sondern etwa um die Grundfrage ‹Dürfen wir das Gesetz brechen und frei sein?› Es ist ein imaginatives Hineindenken in Grenzüberschreitungen, die wir nicht selbst begehen müssen.»
Das Publikum als Richter
Die Faszination für den Mörder an sich ist also nicht denkbar, ohne die Erzählung, in die dieser eingebettet ist. Die Perspektive des Verbrechers wäre nicht halb so faszinierend, ohne das Wissen, dass ihm eine Journalistin nachrecherchiert oder ein Kommissar auf den Fersen ist. Und die höchste Instanz, die an der Faszination mitwirkt, ist der gesellschaftliche Rahmen.
Das Publikum auf der Polstergruppe am Sonntagabend, das entscheidet: Ist diese Tat nachvollziehbar? Kann man den Täter aus seinen Umständen verstehen? Trifft ihn eine gerechte Strafe? Oder kommt ein manifester Unhold davon und lauert weiterhin unerkannt als Gefahr für alle anderen?
W.H. Auden behauptete, die Sucht nach «Detektivgeschichten» erfasse vor allem sehr erfolgreiche Berufsleute mit Interesse an intellektueller Auseinandersetzung. Solche, die die Lektüre von «Filmmagazinen» oder «Comics» niemals ertragen würden. Polizeipsychologin Graber guckt nur selten zwischen ihren Fingern hervor auf den Fernseher: «Beruflich befasse ich mich schon den ganzen Tag mit Straftaten. Ich habe andere Hobbys.»
Psychoanalytiker Gmür ist auch kein Krimi-Fan. Er sagt, nach einem halben Jahrhundert als Psychiater habe er sein Interesse an Erzählungen beruflich ausgelebt. Wenn er mal einen Krimi lese, dann einen Klassiker von Georges Simenon oder Friedrich Glauser. Da kann Gmür geniessen, was ihm Gerichtsakten und Krankheitsgeschichten immer verwehrt haben: die Schönheit der Sprache.