Der Dokumentarfilm «Becoming Giulia» porträtiert die Primaballerina Giulia Tonelli – und zeigt, wie sie nach ihrem Mutterschaftsurlaub zurück in die fordernde Welt der Elite-Ballettkompanie zurückfindet.
Tonelli tanzt seit 13 Jahren am Opernhaus Zürich. Zwei Jahre nach dem Filmdreh hat sie ein zweites Kind bekommen. Wie schafft sie den Balanceakt zwischen Mutter und Primaballerina?
SRF: «Becoming Giulia» von Regisseurin Laura Kaehr gewann 2022 den Publikumspreis am Zürcher Filmfestival. Wie ist Ihre Situation heute?
Giulia Tonelli: Ich habe ein zweites Kind bekommen. Leon ist jetzt ein Jahr alt. Jacopo ist vier. Mutter zweier Söhne zu sein, ist ziemlich tough.
Man sagt immer, beim zweiten wisse man, wie es geht.
Der Schock von keinem Kind zu einem Kind war grösser als die Geburt des zweiten. Es sind mehr logistische Probleme, die uns Schwierigkeiten bereiten. Wenn ein Kind krank wird oder der Stress am Abend, wenn die Kinder müde sind. Ich bin nach vier Monaten Mutterschaftsurlaub wieder voll eingestiegen, das war sehr anstrengend.
Da gibt es dieses Gefühl der Schuld, das mir überall hin folgt.
Oft reduzieren Mütter ihr Pensum nach der Geburt des zweiten Kindes, weil die Belastung zu gross wird. Wieso sind Sie wieder 100 Prozent zurück im Opernhaus?
Im Ballettensemble des Opernhauses gibt es keine Teilzeitarbeit. Ballett ist eben auch Spitzensport und vor allem auf junge Tänzerinnen zugeschnitten.
Gibt es denn Beispiele, wie es anders laufen kann?
Ja, beispielsweise im Het National Ballet, Finnish National Ballet oder im National Ballet of Canada.
Viele junge Tänzerinnen schieben ihren Kinderwunsch auf, bis es irgendwann zu spät ist.
Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Ich bringe am Morgen Jacopo in den Kindergarten. Mein Mann bringt Leon in die Krippe. Dann gehe ich ins Balletttraining. Wenn ich am Abend eine Aufführung habe, ist der Nachmittag frei. Früher habe ich mich dann erholt. Heute hole ich die Kleinen früh ab und versuche, so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen. Da gibt es dieses Gefühl der Schuld, das mir überall hin folgt. Dass ich nicht genügend für sie da bin, dass ich Meilensteine in ihrem Leben verpasse.
Hat diese Situation für Sie Konsequenzen?
Ich finde, ich sollte nicht vor die Wahl gestellt werden, tanzen zu dürfen oder für meine Kinder da zu sein. Frauen sollten gefördert werden in ihrem Wunsch, ihrem Beruf mit Leidenschaft nachzugehen und sich gleichzeitig um ihre Kinder zu kümmern.
Wie viele junge Mütter oder Väter arbeiten im Ballettensemble im Opernhaus?
Als ich unter Heinz Spoerli ans Opernhaus kam, gab es – so viel ich weiss – nur eine einzige Mutter. Unter Christian Spuck wuchs die Zahl auf fünf. Nach dem letzten Direktionswechsel sind wir nur noch zu zweit. Viele junge Tänzerinnen schieben ihren Kinderwunsch auf, bis es irgendwann zu spät ist. Je normaler Mutter- oder Vaterschaft im Ballett ist, umso mehr Mut haben junge Paare und desto mehr finden unsere Bedürfnisse Gehör.
Im Film sieht man auch Cathy Marston, die neue Ballettdirektorin, die selbst zwei Kinder hat. Es gab Hoffnung, dass sich die Bedingungen damit verbessern.
Es ist noch sehr früh, um dazu eine Aussage zu treffen. Allgemein sieht man, dass mehr und mehr Frauen mit der Leitung von Ballett-Kompanien betraut werden: in San Francisco, im National Ballet of Canada und zuletzt an der Wiener Staatsoper. Gerade im generell patriarchal geprägten Umfeld des Balletts ist es aus meiner Sicht wichtig, dass Frauen in Führungspositionen nicht bemüht sind, tougher zu sein als die Männer. Sie sollten ihre eigenen Stärken und Lebenserfahrungen dafür einsetzen, Veränderung zu bringen.
Das Gespräch führte Barbara Seiler.