Weihnachten 2020 fiel für Tanja Stadler und ihr Team ins Wasser. Kurz zuvor hatten Meldungen aus Grossbritannien die Forschungsgemeinschaft alarmiert, es gebe eine neue Variante von Sars-CoV-2, die möglicherweise viel ansteckender sei.
«Wir wollten rasch herausfinden, ob diese britische Variante auch schon in der Schweiz zirkuliert», erzählt Tanja Stadler. «Also hielten wir an der ETH unsere Labore offen und beschlossen, über die Weihnachtstage zu sequenzieren.»
Forschung für den Bundesrat
Die 39-Jährige ist seit Beginn der Pandemie in die Corona-Forschung involviert. Innerhalb der Expertengruppe «Data and Modelling» ist ihre Forschungsgruppe für die Berechnung der Reproduktionszahl zuständig – eine der zentralen Richtgrössen, um den Verlauf der Pandemie zu bestimmen.
Ein wesentlicher Teil der Arbeit betrifft auch genetische Sequenzierungen des Virus und seiner Mutationen. Mit ihren Analysen ist die ETH-Professorin regelmässig in den Medien präsent.
«Das muss man aushalten»
Ende Jahr hat Tanja Stadler die Leitung der Expertengruppe «Data and Modelling» übernommen. Seither steht sie noch mehr im Rampenlicht.
Die Worte der Wissenschaftlerin haben Gewicht. Der Bundesrat hat sich an ihr wie auch an den anderen Taskforce-Mitgliedern orientiert, um daraus Massnahmen abzuleiten oder allfällige Öffnungsschritte zu planen.
Diese öffentliche Rolle von Wissenschaftlerinnen ist anspruchsvoll. «Man gerät leicht ins Kreuzfeuer, weil teilweise Dinge instrumentalisiert werden, die man gar nie so gemeint hat», sagt Stadler.
Sie versuche dann jeweils, bei den Fakten zu bleiben. Und bei der Evidenz. «Da muss man einfach seinen Weg gehen, aber man macht sich nicht nur Freunde. Das muss man aushalten.»
Plötzlich «systemrelevant»
Wie hält Tanja Stadler das aus? Wie wird man von der exzellenten Wissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin, die ausserhalb der Community vor Covid-19 nur wenige gekannt haben, zur systemrelevanten Corona-Forscherin? Und: Gab es Verhaltensweisen, Maximen in Tanja Stadlers Team, die sie auf Corona «vorbereitet» haben?
Da sei zunächst ihr grundsolides Verständnis von guter Wissenschaft. «Wir versuchen, zum Erkenntnisgewinn beizutragen, um die Welt um uns herum etwas besser zu verstehen», erklärt Stadler.
Das könne angewandte Forschung sein wie jetzt in der Corona-Pandemie. Aber auch rein grundlagenorientiertes Wissen – ohne direkte Anwendung.
Kompetitiv, aber gemeinschaftlich
Das würden wohl viele Forschende unterschreiben. Doch was die ETH-Professorin wirklich ausmacht, ist ihr Forschungsstil. Ihr Umgang mit der Gruppe ist ehrgeizig-kompetitiv und jugendlich-gemeinschaftlich zugleich. Jana Huisman ist Doktorandin in Stadlers Gruppe. Die 25-Jährige schreibt ihre Dissertation über Antibiotikaresistenzen. Doch diese Arbeit liegt seit einem Jahr wegen Corona-Projekten brach. Unter anderem für die tägliche Berechnung des R-Werts.
Jana Huisman beschwört den «kollaborativen Geist», den sie in ihrer Gruppe hätten. «Wir haben einen guten Umgang und Respekt füreinander. Die Kompetenzen von uns Gruppenmitgliedern ergänzen sich. Wir helfen uns gegenseitig.»
Fleiss und Ausdauer
Das fördere die kollektive Kreativität, bringe alle im Team auf gute Ideen, sagt die Doktorandin. Tanja Stadler selber sagt: «Mir ist ein offener Umgang sehr wichtig. Jeder und jede soll sich trauen, verrückte Ideen einzubringen und mögliche Probleme in einem Projekt anzusprechen.»
Ein weiterer Erfolgsfaktor der Gruppe Stadler: Fleiss und Ausdauer. «Das ganze Team hat seit Beginn der Pandemie sehr, sehr viel geleistet», erzählt die Chefin und verweist etwa auf die wegen der britischen Variante durchgearbeiteten Weihnachtsfeiertage.
Gemeinsamer Ehrgeiz
Noch ein Aspekt, der erfolgreiche Corona-Forschung ausmacht: eine gehörige Portion Ehrgeiz gegen aussen.
Stadler erklärt, Forschungsgruppen wie die ihre hätten in der Pandemie immer wieder Daten und Resultate untereinander ausgetauscht, um dem gemeinsamen Ziel näher zu kommen: Sars-CoV-2 besser zu verstehen.
Gleichzeitig gebe es auch viel Wettbewerb, gerade wenn man an gleichen Themen arbeite. Und das sei gut: «Zum einen spornt es an, auf Ergebnisse hinzuarbeiten», sagt sie. «Und zum anderen braucht es die Sichtweisen von vielen auf das gleiche Problem, damit sich vorläufige Ergebnisse bestätigen können.»
Was Tanja Stadler eben auch auszeichnet, ist ihre Fähigkeit sich abzugrenzen. Zum Beispiel gegen die «Maulkorb-Forderung» der Wirtschaftskommission des Nationalrats. Danach sollen Taskforce-Mitglieder zu Covid-19 fortan schweigen.
Dies liess die ETH-Forscherin ungerührt: «Die Wissenschaft – oder ich – möchte keine Politik machen. Wir möchten einfach das erklären, was wir wissen.» Entscheiden müsse die Politik.