Man sieht sie nach wie vor in den Banlieues, auf dem Markt, vor den Schulen: Frauen, die sich mit jenem Stück Stoff verhüllen, das zu tragen in Frankreich mit 150 Euro bestraft wird. Der Niqab oder eben die Burka. Doch in den zehn Jahren seit Bestehen des Verbots wurden lediglich an die 2000 Bussen ausgesprochen.
«Oft sehen Polizisten ostentativ weg. Sie wollen keine Scherereien», beklagt sich Latifah fast ein wenig. Die 22-jährige Konvertitin aus Grigny trägt den Niqab aus freien Stücken. Das Gesetz habe nichts gebracht. «Es hat nur bewirkt, dass der Rassismus jetzt offener zutage tritt.»
Verbot als politisches Signal
Die Zahl der sogenannten «Niqabées», der vollverschleierten Frauen in Frankreich, ist schwer zu schätzen. Doch auch wenn es vielleicht 2000 bis 3000 Frauen wären – es bleibt eine verschwindend kleine Minderheit.
Jean-François Copé, damaliger Fraktions-Chef der UMP und heutiger Bürgermeister von Meaux, hatte 2010 die Gesetzesvorlage zum Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum durchgeboxt. «Ich glaube, ein Gesetz zu erlassen, war ein sehr starkes Symbol. Seit zehn Jahren hat sich das Phänomen nicht ausgeweitet. Hätten wir es toleriert, wäre es vielleicht anders gekommen», sagt Copé.
Kontraproduktives Verbot
Agnès De Féo hat für eine Langzeitstudie gut 200 Vollverschleierte über Jahre begleitet und befragt. Laut der Soziologin hatte das Verbot einen gegenteiligen Effekt. «Der Niqab ist dadurch subversiv geworden.» Vorher hätten sich junge, zumeist konvertierte Französinnen durch ihre zur Schau gestellte Frömmigkeit etwas abheben wollen. Doch nur wenige hätten sich verschleiert.
Die Vollverschleierung gibt ihnen ein Gefühl der moralischen Überlegenheit.
«Dann traf ich Frauen, die extra zum Islam übergetreten sind, um sich zu verhüllen. Das Gesetz war der Auslöser.» Die Soziologin, Dokumentarfilmerin und Buchautorin räumt auch mit gängigen Klischees auf – hinter dem Schleier würden sich Rebellinnen verstecken. «Die Vollverschleierung gibt ihnen ein Gefühl der moralischen Überlegenheit. Die Macht zu haben, andere zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, ist eine Umkehr der Dominanz. Diese Frauen sind sozusagen Punks.»
Es seien aufsässige Frauen, die niemandem gehorchen und sich weder von einem Mann noch einer Salafisten-Szene den Schleier aufzwingen liessen. Wichtiger als Frömmigkeit sei ihnen der Protest gegen die Gesellschaft, gegen Familienkonventionen.
Nicht nur ein Kopftuch
Dass die Vollverschleierung nur ein individuelles Phänomen, unabhängig von Religion und sozialem Druck, ja eine – vergängliche – Mode sei, akzeptiert Politiker Jean-François Copé nicht: «Dass sich bloss niemand täuschen lässt. Hinter dem Ganzen steckt eine Ideologie. Die des radikalen Islamismus.»
Allerdings rutschten nur sehr wenige französische Niqab- und Burkaträgerinnen in die radikale Salafistenszene ab. Möglicherweise hat die freiwillige Vollverschleierung doch weniger mit radikalem Islamismus als mit islamisierter Radikalität zu tun.