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99-Prozent-Initiative Darum haben Steuerinitiativen in der Schweiz einen schweren Stand

Initiativen wie die 99-Prozent-Initiative waren auf nationaler Ebene bisher chancenlos. Doch wieso? Profitieren könnte womöglich die Mehrheit.

Nein, sagten gut 70 Prozent der Stimmenden 2015 zur Reform der Erbschaftsteuer. Die Linke wollte mit dieser Initiative Millionenerbschaften besteuern, das Geld sollte in die AHV und zu den Kantonen fliessen. Nein auch ein Jahr vorher zur Initiative, die die Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer in der Schweiz abschaffen wollte. Nein zur Initiative für eine Kapitalgewinnsteuer 2001.

Die Liste liesse sich weiterführen. Ein Grund für die ablehnende Haltung der Mehrheit liege in der Geschichte der bürgerlich geprägten Schweiz, sagt Politikwissenschaftler Lukas Golder vom Forschungsinstitut gfs.bern. «Die Schweiz ist von der heutigen FDP konstruiert und so haben Wirtschaftsanliegen auch in der direkten Demokratie immer viel Raum erhalten.» Abstimmungen fallen also vielfach zugunsten der Position der Wirtschaft aus.

Wer etwas gegen die KMU-Welt macht, ist schnell im Verdacht, etwas gegen das Erfolgsmodell der Schweiz zu machen.
Autor: Lukas Golder Politikwissenschaftler, Forschungsinstitut gfs.bern

Bürgerliche Politikerinnen und Politiker argumentieren gegen solche Initiativen unter anderem mit der Schwächung der Wirtschaft: Müssten Reiche mehr Steuern bezahlen, würden sie weniger investieren. Betroffen seien auch die KMU, die kleineren und mittleren Unternehmen. «Wer etwas gegen die KMU-Welt macht, ist schnell im Verdacht, etwas gegen das Erfolgsmodell der Schweiz zu machen.» Damit versuche die Wirtschaft oft zu überzeugen.

Zudem beteiligten sich an Abstimmungen und Wahlen viele Privilegierte, Menschen mit guter bis sehr guter Ausbildung, so Lukas Golder weiter. «Unter diesen Privilegierten gibt es vielleicht den Wunsch, mindestens vom unteren Mittelstand aufzusteigen oder dass die Nachkommen aufsteigen.» Aus diesem Wunsch heraus habe die reichere Schweiz vielleicht ein höheres Gewicht bei Abstimmungen als die ärmere. 

Das heisst, man könnte plötzlich auch zu denen gehören, die noch mehr Geld haben und mehr Steuern bezahlen müssten. Und viele von jenen, die unter Umständen am meisten profitieren könnten, weil sie wenig verdienten, gingen oder dürften nicht abstimmen, weil sie als Ausländerinnen und Ausländer kein Stimm- und Wahlrecht hätten, so Golder. 

Schweizer sind zufrieden

Der Politologe macht noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam: In der Schweiz seien viele Menschen im Grunde ganz zufrieden. Hier gehe es auch der unteren Mittelschicht im Vergleich mit anderen Ländern recht gut.

Das bestätigt auch Michelle Beyeler. Die Politikwissenschaftlerin ist Dozentin für Sozialpolitik an der Berner Fachhochschule.«Die Stimmbürgerinnen und -bürger in diesem Land merken, dass relativ viele vom Gesamtkuchen profitieren können.»

Denn die Umverteilung finde nicht nur über das Steuersystem statt. Sie funktioniere auch über Zuschüsse, wie zum Beispiel Beiträge an Krippenplätze oder Ergänzungsleistungen. Reiche hingegen müssten alles selbst bezahlen.

Grössere Chancen auf kantonaler Ebene

Linke Anliegen für eine Umverteilung haben es auf Bundesebene schwer. Auf kantonaler Ebene funktioniert es eher. So hat die Zürcher Stimmbevölkerung 2009 die Pauschalbesteuerung abgeschafft. Weitere Kantone folgten. «Auf kantonaler Ebene hat man eher die Möglichkeit, etwas auszuprobieren und es später, wenn es funktioniert, auf nationaler Ebene einzusetzen.» 

Initiativen seien aber trotzdem auch auf Bundesebene interessant, sind sich die beiden Politikwissenschaftler Michelle Beyeler und Lukas Golder einig: Initiativen würden Diskussionen anstossen und sie seien vielfach Auslöser von Reformvorhaben, die schliesslich eine Mehrheit fänden.

Rendez-vous, 06.09.2021, 12:30 Uhr

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