Falls jemandem die neue Situation etwas nütze, dann nur der SVP, sagt Politikwissenschaftler Lukas Golder. «Die Coronakrise ist eine Chance, die Debatte aus Sicht der SVP völlig neu zu lancieren und völlig neue Themen aufs Parkett zu bringen, die schon etwas in Vergessenheit geraten sind. Man wollte die Situation mit der EU stabilisieren.»
Keine Neuausrichtung der Kampagne
Doch nun herrsche eine völlig neue Instabilität und ein völlig neues Meinungsklima. «Vielleicht ist die Pandemie ein eigentliches Wendeereignis.» Eine jüngst durchgeführte Umfrage habe nämlich aufgezeigt, dass weniger Globalisierung und mehr Eigenständigkeit gefragt seien.
Von einer Neuausrichtung der Kampagne will die SVP aber nicht sprechen. Es gelte immer noch dasselbe wie vor der Coronakrise, sagt SVP-Nationalrätin und Kampagnenleiterin Esther Friedli.
«Wir haben immer schon gesagt, dass die Personenfreizügigkeit ein Schönwetterprojekt ist. Jetzt zeigt sich in der Schweiz eine stark steigende Arbeitslosigkeit. Sehr viele Menschen sind in der Kurzarbeit. Die Wirtschaftsaussichten sind ganz schlecht. Dass man da die Zuwanderung wieder selbst steuern muss, scheint mir auf der Hand zu liegen.» Und genau das sei die Botschaft der Begrenzungsinitiative, so Friedli.
Gefährdete Verträge mit der EU
Auch beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hält man fest, dass sich trotz Corona grundsätzlich nichts geändert habe. Die Botschaft sei die gleiche: Die Initiative gefährde die bilateralen Verträge mit der EU.
Allerdings, so sagt Oliver Steimann, der bei Economiesuisse für die Nein-Kampagne zur Begrenzungsinitiative zuständig ist: «Es ist klar, dass uns die Pandemie nötigt, die Kampagne etwas neu auszurichten. Die wirtschaftliche Lage ist eine andere, als wir sie noch im Frühjahr hatten. Wir können nicht mehr so sorglos in die Zukunft schauen. Die Arbeitslosenzahlen steigen und darauf werden wir sicher Rücksicht nehmen müssen.»
«Argumentationsnotstand der SVP»
Lockerer gibt sich SP-Nationalrat Fabian Molina. «Die Initiative hat eher schlechtere Chancen, weil die SVP ja selbst in einen Argumentationsnotstand geraten ist. Sie war für eine Grenzöffnung für den Tourismus und für gewisse Branchen, zum Beispiel für die Bauern, die im Rahmen der Personenfreizügigkeit auf Arbeitskräfte angewiesen sind.»
Weil Versammlungsverbot und Grossanlässe aber weiterhin verboten sind, setzen die Parteien vermehrt auf einen virtuellen Abstimmungskampf. So richtig losgehen soll es erst nach den Sommerferien.
Es sei viel zu früh, um eine einigermassen seriöse Aussage über den Ausgang der Abstimmung zu machen, meint Politikwissenschaftler Golder. Da hat er wohl recht. Denn die letzten drei Monate haben gezeigt, dass die Welt plötzlich eine ganz andere sein kann.