Ein Team der Universität Genf hat sich zum Ziel gesetzt, die Missbrauchsfälle an Jungen und Mädchen ans Licht zu bringen, welche zwischen 1932 und 1962 im Von-Mentlen-Institut in Bellinzona zwangsuntergebracht waren. Die Einrichtung wurde zu dieser Zeit von Nonnen der katholischen Kongregation vom Heiligen Kreuz in Menzingen geleitet.
Eine der Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Gewalt und den Missbräuchen stellt, ist, wie die Nonnen auf ihre Arbeit mit den Kindern vorbereitet wurden. «Zumindest bis in die 1960er-Jahre hatte das Institut das Ziel, den dort untergebrachten Kindern Hilfe und damit das Überleben zu garantieren». Folglich, so die Historikerin, entsprach die Ausbildung der Nonnen nicht dem, «was wir heute im pädagogischen und psychologischen Bereich verstehen».
«Fühlte mich gefangen»
In der damaligen Zeit machten die Jungen und Mädchen im Von-Mentlen-Institut jedoch Erfahrungen, die ihr Leben für immer prägen sollten. Eine Betroffene, die anonym bleiben möchte, gibt Einblicke: Sie kam 1962 mit 10 Jahren in die Einrichtung, erzählte sie dem italienischsprachigen Radiosender RSI. Nachdem die Mutter zum zweiten Mal heiratete und sich die Grossmutter nicht mehr um das Kind kümmern konnte, «übte die Sozialarbeiterin Druck auf meine Mutter aus, mich in dieses Internat zu stecken». Der erste harte Schlag: «Als ich dort ankam, fühlte ich mich wirklich eingesperrt. Und ich sehe immer noch dieses kleine Mädchen, das damals so viel weinte.»
Irgendwann lernte man, sich nicht mehr zu beschweren und sich der Tyrannei zu unterwerfen.
Sie habe sich sehr verlassen gefühlt, umgeben von Menschen, die sie nicht kannte. Zu fliehen, sei keine Möglichkeit gewesen, das Internat war von einer Mauer umgeben. «Es war auch unmöglich, Briefe zu schreiben und darin sein Unglück zu beklagen und zu bitten, einen zurückzuholen. Diese Briefe wurden zensiert und nicht abgesendet.» Im Gegenteil: «Man musste sagen, dass es einem an nichts fehlte.»
Erniedrigende Kollektivstrafen
«Irgendwann lernte man, sich nicht mehr zu beschweren und sich der Tyrannei zu unterwerfen». Es herrschte eine sehr strenge Disziplin. Wenn man dagegen verstiess und sei es nur, dass man «einem Klassenkameraden ein Lächeln schenkte», riskierte man körperliche Gewalt. Auch Kollektivstrafen wurden verhängt, wenn das Verhalten von Einzelnen negativ beurteilt wurde. Und die waren teils erniedrigend, erzählt die Betroffene: So hätten sich etwa Mädchen in Unterwäsche vor die Jungen stellen müssen, die sie dann ausgelacht hätten.
Psychische Folgen
«Ich habe gelernt, zu überleben, indem ich mich in meine eigene Welt zurückgezogen habe», erzählt die Frau. Sie habe viel gelesen und sich in ihrer Fantasie eine eigene Welt geschaffen – «wie ich sie haben wollte, in Farbe», während sonst «alles schwarz und weiss war.»
Ein dunkler und bitterer Lebensweg, der sich erst viel später aufhellte. «Ich habe es geschafft, weiterzukommen. Ich bin so weit gekommen», betont die Frau und erinnert sich an die schönen Momente, wie die Geburt ihrer Kinder. Aber die «sehr, sehr tragischen Momente» dieser Zeit blieben ihr immer im Gedächtnis. Und das Bewusstsein, dass «mein ganzes Leben eine einzige Suche nach Zärtlichkeit und Nähe war».