2024 war für das Stimmvolk in der Schweiz ein arbeitsreiches Jahr. Es gab zwölf eidgenössische Abstimmungen. Hinzu kamen 75 in den Kantonen zu den verschiedensten Themen. Und dann noch Regierungs- und Parlamentswahlen in mehr als einem Viertel der Kantone. Wie gross ist die Gefahr, dass die Stimmbevölkerung müde wird und überfordert von zu viel Demokratie?
SRF News: Am Sonntag lag die Stimmbeteiligung bei rund 45 Prozent. Wie kommt es, dass Themen, die uns alle sehr stark betreffen – Wohnen, Gesundheit und Strassen – nicht stärker mobilisierten?
Oscar Mazzoleni: Dieser Wert ist keine Überraschung. Der historische Durchschnitt der letzten Jahrzehnte bei Referenden und Volksinitiativen liegt eher bei 45 Prozent als bei 58 Prozent (so hoch lag die Beteiligung bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente, Anmerkung der Redaktion). Die Abstimmungsfragen betreffen die Bürgerinnen und Bürger immer auf indirekte Weise. Es gibt Fragen, die technischer sind als andere. Sie müssen in der Kampagne vereinfacht werden. Und das hat einen Zusammenhang mit der Mobilisierungsfähigkeit der Parteien, ob links oder rechts. Wenn die Komitees und die Verbände in der Kampagne das Sagen haben, ist es oft schwieriger, die Botschaft zu vermitteln, weil das Thema dann nicht vereinfacht und ins klassische Links-Rechts-Schema eingeordnet werden kann.
Was muss sich ändern, damit das Stimmvolk wieder zahlreicher an die Urnen geht?
Wir dürfen nicht vergessen, dass die direkte Demokratie der Schweiz älter ist als die sozialen Medien und auch das Fernsehen und die vielen Medien, die wir heute haben. Die Demokratie wurde in der Ära der Zeitungen geboren. Diese hatten fast ein Monopol auf die Meinungsbildung. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen über die Veränderungen, die heute stattfinden. Ich denke dabei insbesondere an die Zukunft der Medien, aber auch an die Frage der staatsbürgerlichen Erziehung. Denn das Abstimmen wird nur dann als Wunsch und als staatsbürgerliche Pflicht empfunden, wenn die Familie, die Schule und die Gesellschaft bei der Förderung dieser Art von aktiven Bürgern eine Rolle spielen.
Sie sagen also, eine Stimmbeteiligung von 45 Prozent falle nicht aus der Norm. Ist es also nicht angebracht, sich darüber Sorgen zu machen?
Es handelt sich um ein zyklisches Problem, für das es keine einfachen Lösungen gibt. In einer liberalen Demokratie gibt es das Stimm- und Wahlrecht, die Teilnahme ist aber freiwillig. Der Staat zwingt nicht zur Teilnahme, und das ist wichtig. Es gibt zum einen eine Sorge, die wir moralisch nennen könnten: die Stimmbeteiligung als ein Thermometer für die Qualität der Demokratie und ihre Gesundheit. Und dann gibt es die Sorge derjenigen, die nach der Abstimmung als Verlierer dastehen und glauben, dass die schlechte Mobilisierung der Hauptgrund für diese Niederlage war. Das Thema der geringen Wahlbeteiligung kommt immer wieder vor und ist in gewissem Sinne auch Teil der Sorge um die Zukunft der Demokratie, die nie eine Selbstverständlichkeit ist.