In der Schweiz sind die Stimmberechtigten in diesem Jahr so zahlreich an die Urne geströmt wie seit vielen Jahren nicht mehr. Über 13 Vorlagen wurde auf nationaler Ebene abgestimmt. Bei keiner lag die Stimmbeteiligung unter 50 Prozent. Im Durchschnitt beteiligten sich 57.2 Prozent der Stimmberechtigten.
Am stärksten mobilisierte die zweite Abstimmung über das Covid-19-Gesetz von Ende November. 65.7 Prozent gaben ihre Stimme ab. Das ist auf der ewigen Rangliste die vierthöchste Wahlbeteiligung.
Die Zahlen sind beeindruckend. Urs Bieri, der sich als Co-Leiter der Forschungsstelle GFS Bern mit der Analyse von Abstimmungen beschäftigt, muss in seinen Statistiken bis ins Jahr 1949 zurückblättern, um ein Jahr mit einer noch höheren durchschnittlichen Stimmbeteiligung zu finden.
Tuberkulose mobilisierte ähnlich stark
Schon damals mobilisierte ein Gesundheitsthema. «Wir haben damals über die Tuberkulose-Bekämpfung abgestimmt. Das war eine Vorlage, die zum Ziel hatte, obligatorisch jährlich Röntgenbilder zu erstellen, um Tuberkulose besser bekämpfen zu können.»
Diese Tuberkulosefrage wurde wie das Covid-19-Gesetz in diesem Jahr sehr kontrovers diskutiert. Laut Bieri sind kontroverse Vorlagen ein Grund für eine hohe Stimmbeteiligung: Abstimmungsfragen, die polarisieren, mobilisieren. Doch das allein erklärt die hohe Stimmbeteiligung nicht. Einfluss dürfte auch die Pandemie haben.
Die Menschen verstehen, dass sich gerade etwas abspielt, das entscheidend sein wird für die nächsten Jahrzehnte.
Früher machten unzufriedene Leute die Faust im Sack und blieben am Abstimmungssonntag zu Hause, erklärt Bieri. Heute gehen diese Unzufriedenen auf die Strasse und an die Urne. «Gerade die eher behördenkritischen oder systemkritischen Personen sind in der Schweiz im Moment stark politisiert.» Das stellen auch die Parteien fest: Fast alle profitieren derzeit von steigenden Mitgliederzahlen.
Das höhere Interesse an der Politik habe aber auch thematische Gründe, sagt Cédric Wermuth, Aargauer Nationalrat und Co-Präsident der SP Schweiz. «Angefangen mit der Finanzkrise, der Klimakrise, der Migrationskrise, dem Aufkommen der neuen Rechten, Trump in den USA, der Brexit in England: Die Menschen verstehen, dass sich gerade etwas abspielt, das entscheidend sein wird für die nächsten Jahrzehnte und dafür, wie sich dieser Planet entwickelt.»
Interesse bleibt meist ein Leben lang
Mobilisierung und persönliche Betroffenheit, das seien die Zutaten für eine hohe Beteiligung am politischen Prozess. Davon ist der Nidwaldner SVP-Nationalrat und Parteisekretär Peter Keller überzeugt. Die hohe Stimmbeteiligung in diesem Jahr stehe im Zusammenhang mit den Massnahmen zur Pandemie-Bekämpfung.
Dass die persönlichen Freiheiten nicht einfach selbstverständlich sind, ist plötzlich wieder ins Bewusstsein der Leute gelangt.
«Dass die persönlichen Freiheiten nicht einfach selbstverständlich sind, ist plötzlich wieder ins Bewusstsein der Leute gelangt.» Das habe man jetzt ganz elementar erfahren können. Er gehöre auch dazu. «Ich habe das so nicht für möglich gehalten», sagt Keller.
Bleibt die Frage, ob die hohe Beteiligung am politischen Geschehen auch nach der Corona-Pandemie anhält. Ja, sagt Politologe Bieri. Denn wer durch ein Schlüsselerlebnis wie die Pandemie politisch sozialisiert werde, bleibe meist ein Leben lang politisch interessiert und aktiv. Und das führe zu einer hohen Stimmbeteiligung. Profitieren kann davon vor allem die Demokratie.