Jede fünfte Person in der Schweiz leidet unter psychischer Belastung. Fast niemand ist davor gefeit, eines Tages in der psychiatrischen Notaufnahme zu landen.
Ein Aufenthalt in der psychiatrischen Notaufnahme dauert in der Regel wenige Stunden. Ziel ist es, die akute Krise zu bewältigen. Nach der Erstversorgung werden die Patienten stationär aufgenommen oder an ambulante psychiatrische Einrichtungen weiterverwiesen.
Die Krux der fürsorgerischen Unterbringung
Die Aufgabe der psychiatrischen Notfalldienste besteht darin, das Suizidrisiko der Patienten einzuschätzen.
Nicht selten wird eine fürsorgerische Unterbringung ausgesprochen, um einen Patienten zu schützen – oft gegen seinen Willen. Solche Zwangseinweisungen sind schwer zu vermitteln und werden von den Betroffenen aber auch vom Pflegepersonal häufig als belastend empfunden.
«Wir tragen die Verantwortung, die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Wenn wir im Einklang mit unserem Gewissen handeln, hilft das, mit unerwünschten Konsequenzen umzugehen», berichtet Valentina Serio, Ärztin am Neuenburger Psychiatriezentrum, gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS.
Gewaltvolle Momente
Eine weitere Herausforderung des Notfalldienstes ist es, Patienten in akuten psychischen Krisen zu beruhigen. In solchen Situationen können die Interaktionen aggressiv sein. Das medizinische Personal befolgt dabei ein genaues Protokoll für Zwangsmassnahmen wie körperliche Fixierung, Isolation in einem geschlossenen Raum oder die Verabreichung von Medikamenten gegen den Willen der Betroffenen.
«Meistens handelt es sich um Menschen, die nicht mehr über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügen», erklärt Stéphane Saillant, Psychiater am Neuenburger Spital. «In diesen Momenten ist es meine Verantwortung, die Kontrolle über die Situation zu übernehmen.»
Zwang als empfundene Ungerechtigkeit
Solche Massnahmen können bei den betroffenen Personen posttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Vor einem Jahr wurde eine Westschweizer Beobachtungsstelle für Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie gegründet, die Erfahrungsberichte über Zwangsmassnahmen dokumentiert.
Die bisher gesammelten Zeugnisse zeigen: Trotz gesetzlicher Anpassungen und besserer Schulung des Personals empfinden viele Patienten Zwangsmassnahmen weiterhin als Ungerechtigkeit und nicht als Hilfe.
«Das ist ein wichtiges Signal. Wir müssen diese Massnahmen mit grösster Zurückhaltung einsetzen», sagt Alexandre Wullschleger, stellvertretender Arzt im Erwachsenenpsychiatrischen Dienst der Universitätskliniken Genf. «Als Fachkräfte müssen wir anerkennen, dass wir in diesen Momenten eine Form institutioneller Gewalt ausüben, auch wenn dies aus den besten Absichten heraus geschieht.»
Um das Verhältnis zwischen Patienten und Fachpersonal zu verbessern, arbeitet die Psychiatrie derzeit daran, Betroffenen stärker einzubeziehen: durch Nachbesprechungen nach Zwangsmassnahmen, Patientenverfügungen zu gewünschten oder unerwünschten Behandlungen sowie die Ernennung eines therapeutischen Vertreters für den Fall eines Urteilsverlusts.
Wichtige Fortschritte, doch Fachkräfte wie Alexandre Wullschleger fordern eine weitergehende gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit psychiatrischen Notfällen.