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In der stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen wendet das Personal oft Zwang an
Aus Rendez-vous vom 30.05.2023. Bild: Nora Meuli/SRF
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Zwangsmassnahmen bei Kindern Wenn sonst nichts mehr hilft: Zwang in der Kinderpsychiatrie

310 Kinder und Jugendlichen erlebten 2021 in Psychiatrien Zwang. Das sind im Schnitt 7 Prozent aller Patientinnen und Patienten in Kinder und Jugendpsychiatrien. Manche Kliniken schneiden viel schlechter ab.

In ein Zimmer gesperrt, am Bett festgebunden oder mit Medikamenten sediert. Auch Kinder und Jugendliche erleben in Psychiatrien Zwang. Es ist eine kleine Minderheit, aber für sie sind die Eingriffe potenziell traumatisierend. Die Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachkräfte müssen jedes Ereignis dokumentieren.

Um sich zu verbessern, geben die Kliniken die Zahlen an ANQ weiter, den nationalen Verein für Qualitätssicherung in den Spitälern und Kliniken. Die neusten verfügbaren Zahlen sind jene für 2021: 310 Kinder und Jugendliche erlebten in Kinder- und Jugendpsychiatrien mindestens einmal eine Zwangsmassnahme. Konkret waren das 276 Fälle von Isolationen, 51 Fälle von Fixierungen und 53 Fälle von Zwangsmedikation.

Nicht alle Kinder- und Jugendpsychiatrien wenden gleich häufig Zwang an.

Zur Vergleichbarkeit der Zahlen

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Die Kinder- und Jugendpsychiatrien müssen Zwangsmassnahmen dokumentieren, also wie, wann und warum Zwang eingesetzt worden ist. Die Zahlen erheben sie selbst und liefern sie ANQ – dem nationalen Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken. Ziel der Qualitätsmessung ist es, dass sich die Kliniken vergleichen und verbessern können. Anders als andere Indikatoren werden die Zahlen zu den freiheitsbeschränkenden Massnahmen nicht nach Risiko gewichtet. Das heisst, dass die Anteilswerte in einer Klinik besonders hoch sein können, weil dort besonders viele schwierige Fälle waren.

Mehr freiheitsbeschränkende Massnahmen bedeutet nicht unbedingt eine schlechtere Qualität, schreibt ANQ im Bericht. Eine Interpretation der Ergebnisse müsse immer im Kontext der Klinikkonzepte erfolgen. Während einige Kliniken häufiger kürzere freiheitsbeschränkende Massnahmen anwenden würden, setzten andere auf längere Massnahmen bei geringerer Anzahl.

Zudem haben die Klinik Sonnenhof und die Luzerner Psychiatrie darauf hingewiesen, dass sie jegliche Form von Zwang erfassen – also zum Beispiel auch, wenn sie ein 10-jähriges Kind, das auf eine Pflegerin losgeht, kurz festhalten.

Solche Zwangsmassnahmen sind ein tiefer Eingriff in die persönliche Freiheit und die körperliche Integrität eines Menschen. Sie dürfen darum nur bei akut drohender Todesgefahr für die jungen Menschen selbst oder für andere zum Einsatz kommen. Nie, um ein Kind zu erziehen und auch nicht als Teil einer Behandlung.

Kinderanwältin Laura Jost zur rechtlichen Lage

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«Zwang ist im Bereich der Selbstgefährdung nur zulässig, wenn die betroffene Person in ernsthafter gesundheitlicher Gefahr schwebt, die nicht anders abgewendet werden kann», sagt Kinderanwältin Laura Jost. Es gehe aber auch um die Verhältnismässigkeit. Aus Sicht der Kinderanwältin wären «mit mehr Personal mildere Massnahmen möglich». Als Beispiel: Anstatt die Patientinnen oder Patienten über Nacht in ein Isolationszimmer zu stecken, könnte die Selbstgefährdung auch mit mehr Betreuung gebannt werden, so die Anwältin.

Grundsätzlich steht jeder Person, die gegen ihren Willen fürsorgerisch untergebracht wird, der Rechtsweg offen. Sie kann sich gegen die Unterbringung in der Klinik wehren. Bei der Durchsetzung dieses Rechtsanspruchs sei aber eine Lücke vorhanden, sagt Jost, denn den Kindern und Jugendlichen in solchen Situationen werde nicht flächendeckend ein Kinderanwalt zu Seite gestellt. Auch Erwachsenen erhielten nicht automatisch einen Rechtsanwalt.

«Zwangsmassnahmen sind das allerletzte Mittel, wenn nichts anderes mehr hilft», sagt Michael Kaess, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern.

Erleben häufig Zwang: Junge Frauen, die nicht mehr leben wollen

Ein typischer Fall ist ein 16-jähriges Mädchen. Sie kommt nicht freiwillig in die Psychiatrie, sondern mit der Polizei. Ihre Therapeutin hat sie wegen akut drängender Suizidgedanken eingewiesen. Im Notfallzentrum angekommen, eskaliert die Situation. Sie wehrt sich mit Händen und Füssen. Sie will sich das Leben nehmen und versucht sich selbst zu verletzen.

Die Pflege versucht, das Mädchen zu beruhigen. Dann halten sie mehrere Personen fest. Wenn das nicht hilft, bringt sie die Pflege in ein Isolationszimmer. Im äussersten Notfall wird sie an einem Bett festgebunden und sediert.

Wenn ein junger Mensch beschlossen hat, sich das Leben nehmen zu wollen, dann sind wir verpflichtet, ihn davon abzuhalten.
Autor: Michael Kaess Direktor Kinder- und Jugendpsychiatrie der UPD Bern.

«Wenn ein junger Mensch beschlossen hat, sich das Leben nehmen zu wollen, sind wir verpflichtet, ihn davon abzuhalten», sagt Michael Kaess. Und zwar mit dem mildest möglichen Mittel.

Insgesamt wird jedes Jahr weniger Zwang angewandt – aber nicht überall

SRF Investigativ hat die Zahlen systematisch analysiert. Die gute Nachricht: Die Kliniken wenden insgesamt immer weniger Zwang an, obwohl sich immer mehr Kinder und Jugendliche selbst verletzen und sich überlegen, sich das Leben zu nehmen. Das gilt aber nicht für alle Kliniken.

In der Luzerner Psychiatrie und in der Klinik Sonnenhof (SG) wendet das Personal besonders häufig sogenannte freiheitsbeschränkende Massnahmen an: 17 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die 2021 in einer dieser zwei Kliniken waren, haben Zwangsmassnahmen erlebt. Beide Chefärzte betonen, dass auch bei Ihnen nur im äussersten Notfall, bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, Zwang angewendet werde. Dennoch stellt sich die Frage: Wie kommt es zu diesen grossen Unterschieden?

Zu wenige psychiatrische Praxen in der Innerschweiz

Zu ihnen kämen besonders viele schwere Fälle, sagt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Luzerner Kinder- und Jugendpsychiatrie: «Das hängt damit zusammen, dass es in der Zentralschweiz besonders wenige psychiatrische und psychologische Praxen für Kinder und Jugendliche gibt.» Dass dem so ist, zeigen auch Zahlen des Bundes.

Die Jugendlichen könnten sich nicht frühzeitig die Hilfe holen, die sie bräuchten, ihre Situation verschlimmere sich darum weiter, sagt der Chefarzt.

Drei «Systemsprengerinnen» in St. Gallen

Er und sein Team nähmen die Zahlen sehr ernst, sagt Ender Seba, Chefarzt der Klinik Sonnenhof im Kanton St. Gallen. Die Schwere der Fälle habe in den letzten Jahren zugenommen: «Gerade 2021 haben wir drei sehr heftige Fälle in der Klinik gehabt, die waren eigentlich nicht tragbar.» Eine Mitarbeiterin sei so stark getreten worden, dass sie am Knie operiert werden musste.

Es handle sich um Jugendliche, die mit ihrer Gewaltbereitschaft nicht nur das System der Klinik sprengten, sondern das gesamte Gesundheitssystem. Diese psychisch schwerkranken Patientinnen und Patienten müssten eigentlich in eine dafür spezialisierte Abteilung verlegt werden. Weil es da aber häufig keine Plätze habe, müssten sie im Sonnenhof bleiben, so Seba.

Die Klinik Sonnenhof wie auch die UPD Bern und die Luzerner Psychiatrie müssen alle Kinder und Jugendlichen aufnehmen, auch jene, mit denen alle anderen Institutionen überfordert sind.

Mit offenen Türen gegen Zwangsmassnahmen

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern haben es die Mitarbeitenden geschafft, die Zwangsmassnahmen zu reduzieren. Michael Kaess, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erklärt: «Seit rund drei Jahren finden Zwangsmassnahmen fast nur noch im Notfallzentrum statt, die Therapiestationen bleiben so offen wie möglich.»

Wenn die Jugendlichen in einer akuten Krise seien, würden sie verlegt. Im Notfallzentrum arbeiten Pflegende, Psychologinnen und Ärztinnen, die auf Deeskalation in solchen Krisen spezialisiert seien. Um das zu erreichen, habe man viel investiert, sagt Kaess: «Wir haben im Notfallzentrum eine gute Personaldecke, damit stets eine sehr enge und zum Teil sogar 1:1-Beziehungsarbeit möglich ist.» Mit dieser Beziehungsarbeit könne manche Krise verhindert werden.

Die Klinik Sonnenhof bewegt sich

«All diese Schritte haben wir auch schon eingeleitet», sagt Ender Seba, Klinikleiter des Sonnenhofs. Seit Sommer 2021 sind die Türen in den Therapiestationen offen und wenn Zwangsmassnahmen nötig werden, gibt es dafür eine spezialisierte Kriseninterventionsstation mit guter Personaldecke. «Damit haben wir die Zahlen 2022 schon auf 14 Prozent senken können», sagt Seba.

Chefarzt im Sonnenhof ist Seba seit Anfang Jahr. Die Frage, wieso die Klinik erst vor knapp drei Jahre damit begonnen habe, auf die hohen Zahlen bei den Zwangsmassnahmen zu reagieren, kann er nicht wirklich beantworten. Er betont aber, dass die Klinik ihr Möglichstes getan habe.

Oliver Bilke-Hentsch will keine Krisenabteilung schaffen: «Uns gut bekannte Patientinnen und Patienten sollen, wenn immer möglich, auch und gerade in der Krise von den gleichen Fachpersonen behandelt werden, da ist das Vertrauen grösser.»

Es gibt Kliniken, die grundsätzlich keine freiheitsbeschränkenden Massnahmen anwenden. Kliniken, die selber keinen Zwang anwenden, hätten im Hintergrund stets eine Institution, die das notfalls übernehme, sagt Michael Kaess von der UPD in Bern: «Man kann keine Null erreichen, weder auf der offenen Station noch im Notfallzentrum». Man könne Zwang reduzieren, ja. Ganz ohne Zwang, zum Schutz der jungen Menschen und der Belegschaft, werde es aber wohl nie gehen. Das sagen alle drei Chefärzte unisono.

Rendez-vous, 30.05.2023, 12:30 Uhr

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