Es sind krasse Vorwürfe, die ehemalige Patientinnen und Patienten, Mitarbeitende und Arztpersonal der Psychiatrie Münsingen machen: In der Klinik für Depression und Angst des Psychiatriezentrums Münsingen PZM sollen systematisch freiheitsbeschränkende Massnahmen – sogenannte Zwangsmassnahmen – angewendet worden sein, SRF berichtete über die Vorwürfe.
Das Psychiatriezentrum Münsingen weist die Anschuldigungen zurück. Man halte sich strikt an die gesetzlichen Vorgaben und setze Zwangsmassnahmen nur bei einem Bruchteil der Patientinnen und Patienten ein.
Es ginge aber auch komplett ohne Zwangsmassnahmen, erklärt der Stiftungsratspräsident von Pro Mente Sana, Thomas Ihde, im Interview.
SRF News: Sie leiten als Chefarzt die psychiatrischen Dienste der Berner Oberländer Spitäler FMI. Wie vermeiden Sie im Alltag Zwangsmassnahmen?
Thomas Ihde: Mein persönliches Credo ist Nachhaltigkeit. Zwangsmassnahmen sind immer eine Notfallsituation und können eine Lösung sein, bei der für das Umfeld und eventuell auch die Betroffenen kurzfristig die Situation entschärft wird. Langfristig sieht das anders aus.
An Zwangsmassnahmen kann man sich noch lange erinnern.
Ich kann mich gut erinnern an meine Anfangszeit in der Psychiatrie: Damals hab ich Leute getroffen, die seit 70 Jahren in der Klinik in St. Urban im Kanton Luzern gelebt haben. Diese Leute sind im Alter von 20 Jahren mit einer schweren psychiatrischen Erkrankung eingetreten und nie mehr herausgekommen. Diese Menschen konnten mir auch noch im hohen Alter von 90 Jahren die einzelnen Daten aus dem Gedächtnis abrufen, an denen sie mit Zwangsmassnahmen behandelt wurden. Das lag teilweise Jahrzehnte zurück. Das hat mich sehr geprägt.
Wie werden Zwangsmassnahmen in der Schweiz gehandhabt?
In der Schweiz gibt es eine grosse Bandbreite zwischen den einzelnen Kliniken. Eine Vorreiterrolle hat beispielsweise die Walliser Klinik in Malévoz, diese hat als erste Klinik der Schweiz den Zwang abgeschafft. Das heisst, es gibt keine abgeschlossenen Türen und keine Zwangsbehandlungen. Umgesetzt wird das durch einen sehr hohen Personaleinsatz – das ist wirklich sehr beeindruckend. Wäre ich in einer schweren Krise, möchte ich dort behandelt werden.
Wie sieht es denn im Kanton Bern aus – wo steht dieser im Vergleich mit anderen Kantonen?
Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits sind die Kliniken sehr unterschiedlich, was die Haltung gegenüber solchen Zwangsmassnahmen angeht, andererseits gibt es auch innerhalb der Kliniken keine Einigkeit. Eine Oberärztin oder ein Stationsleiter kann grossen Einfluss nehmen. Von dem her gibt es auch im Kanton Bern eine grosse Palette an Meinungen und Handhabungen.
Es ist ziemlich zufällig, welche Behandlung Patientinnen und Patienten erhalten.
Das ist auch gesamtschweizerisch ein grosses Problem, welches auch mit den sehr dezentralen Strukturen zu tun hat, die uns sehr viel Freiraum geben und in denen das Bundesamt für Gesundheit nur wenig Einfluss nimmt. Für die Bevölkerung ist es also ziemlich zufällig, welche Behandlung jemand kriegt und das Risiko für eine Zwangsbehandlung ist regional sehr unterschiedlich, was medizinisch nicht erklärbar ist. Walliserinnen sind nicht kränker oder gesünder als Berner.
Wie kann man Zwangsmassnahmen verhindern?
In einer Zürcher Klinik, die ich früher geleitet habe, war die häufigste Alternative ein begleiteter Spaziergang draussen. Das heisst, mit mehr Personal kann man viel erreichen, genauso wie mit früher Intervention. Das ist doch erstaunlich, dass man Zwangsmassnahmen mit menschlichem Kontakt und einem Spaziergang verhindern kann.