Urteilsunfähige werden in der Schweiz sterilisiert – ihre Zustimmung braucht es dafür nicht. Die Sterilisation ist ab 16 Jahren legal. Betroffen sind oft Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung.
Laut der UNO verstösst das Gesetz gegen die Behindertenrechtskonvention. Aber eine Sterilisation sei die allerletzte Option, sagt Dominic Frei, Präsident des Schweizerischen Verbands der Berufsbeistandspersonen. «Das Gesetz sieht vor, gut zu prüfen, ob es keine anderen Lösungen gibt.»
Die Sterilisation einer urteilsunfähigen Person ist zulässig, wenn sie unter anderem «im Interesse der betroffenen Person vorgenommen wird», «wenn mit der Zeugung und Geburt eines Kindes zu rechnen ist» oder «wenn nach der Geburt die Trennung vom Kind unvermeidlich wäre, weil die Elternverantwortung nicht wahrgenommen werden kann». Ausserdem muss die kantonale Erwachsenenschutzbehörde Kesb der Sterilisation zustimmen.
«10 vor 10» hat in allen Kantonen nachgefragt, wie viele urteilsunfähige Personen in zehn Jahren sterilisiert worden sind. In Bern, Zürich und St. Gallen waren es je vier Personen. In Luzern zwei Personen, in Basel-Landschaft und Graubünden je eine Person. Insgesamt also 16 Personen. Jedoch haben sich die Kantone Aargau, Tessin und Wallis nicht gemeldet oder konnten keine Zahlen liefern.
Für Jan Habegger sind die 16 in der Schweiz sterilisierten Personen nur die Spitze des Eisbergs. Als stellvertretender Geschäftsführer der Behindertenorganisation Insieme habe er auch von illegalen Sterilisationen erfahren.
Bei einer notwendigen Darmoperation wurde zusätzlich eine Sterilisation durchgeführt.
Habegger sagt: «Bei einer notwendigen Blinddarmoperation wurde zusätzlich eine Sterilisation durchgeführt. Oder man hat eine Person im Nachhinein darüber informiert, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann.» Das seien zwar nicht unbedingt Fälle der letzten Jahre, sondern von vor 30 bis 50 Jahren. «Aber das kommt heute bestimmt noch vor.»
Eine Dunkelziffer wegen illegal durchgeführter Sterilisationen ist auch für Suna Kircali plausibel. Sie setzt sich als Co-Geschäftsleiterin bei Avanti Donne für Frauen und Mädchen mit Behinderung ein.
Kircali erhält immer wieder Anfragen, die etwa lauten: «Wir haben eine junge Frau mit kognitiver Beeinträchtigung in der Familie. Sie hat einen Partner und sie sind sexuell aktiv. Wir wollen aber nicht, dass sie ein Kind bekommt, weil wir überfordert sind.»
Behörden bestätigen illegale Sterilisationen
Mehrere Präsidentinnen und Präsidenten der kantonalen Erwachsenenschutzbehörden bestätigen die Vermutung von illegal durchgeführten Sterilisationen. Andreas Hildebrand, Präsident der Kesb Region Gossau in St. Gallen, sagt, ein Arzt habe sich an die Kesb gewandt, um die Zustimmung für eine Sterilisation zu erhalten. «Wir sollten ihm doch rasch das Formular schicken, damit er die Kreuzchen am richtigen Ort machen könne und die bereits geplante Operation vornehmen kann.»
Vor diesem Hintergrund fragt man sich schon, wie ist es denn weitergangen ist: an der Kesb vorbei – ohne Bewilligung –, irgendwie vielleicht sogar illegal?
Daraufhin erklärte Hildebrand dem Arzt, dass das nicht so einfach sei. Es brauche Abklärungen in grösseren Ausmass. «Er war erstaunt darüber und hat nichts mehr von sich hören lassen. Vor diesem Hintergrund fragt man sich schon, wie es weitergegangen ist: an der Kesb vorbei – ohne Bewilligung –, vielleicht sogar illegal?»
Der Druck auf die Politik steigt – nicht nur wegen der ersten Behindertensession. Im Nationalrat ist ein SP-Vorstoss hängig, der fordert, dass eine Sterilisation ohne Zustimmung der Betroffenen generell verboten werden soll.