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Finnlands Ex-Präsident Niinistö über Putin: «Frustration ist zu Wut übergegangen»

Europa könne sich nicht mehr auf den Schutzschirm der USA verlassen und müsse darum «in der Nato die Lücken schliessen». Das sagt der frühere Präsident Finnlands im Interview. Über Russlands Präsident Wladimir Putin sagt er, bei ihm sei «Frustration zu Wut übergegangen».

Fast zwei Jahre, nachdem Finnland von seiner historischen Neutralität Abschied genommen hat, bereut Sauli Niinistö nichts. «Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es eine notwendige Entscheidung war», sagt er im Interview mit dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS).

Niinistö schied 2024 nach zwölf Jahren an der Spitze des Landes aus dem Amt. Er ist einer der wenigen westlichen Staatschefs, die eine persönliche Beziehung zu Wladimir Putin pflegten. Und dennoch war er es, der Finnlands Nato-Beitritt als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine vorantrieb.

Original-Interview mit Sauli Niinistö (mit dt. Untertiteln)

Für Sauli Niinistö wirkte der Krieg in der Ukraine wie ein Schock. «Was wir bei dieser Gelegenheit gelernt haben, ist, dass Russland bereit ist, militärische Gewalt gegen ein europäisches Land einzusetzen», erinnert er sich. «In den 90er-Jahren glaubten die meisten von uns, dass die Sicherheit gesichert sei. Heute wird uns klar, dass wir hätten wachsam bleiben müssen.»

Europa allein mit seiner Verantwortung?

Finnland, ein kleines Land mit 5.5 Millionen Einwohnern, verfügt über eine beeindruckende Armee: Es hat die grösste Artillerie Europas, 300'000 schnell mobilisierbare Soldaten und 900'000 Reservisten.

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Für den ehemaligen finnischen Präsidenten sollte dieses Modell der aktiven Abschreckung den Rest des Kontinents inspirieren, zumal der Schutzschirm der USA weniger zuverlässig erscheint als früher.

«Wenn die Vereinigten Staaten ihre Beteiligung an der europäischen Verteidigung reduzieren, müssen wir bereit sein, alle Lücken in der Nato zu schliessen», betont Niinistö. «Und meiner Meinung nach ist es möglich, dass sie Europa vernachlässigen werden, insbesondere wenn sie beschliessen würden, ihre Präsenz im Pazifik zu verstärken.»

Putin, Sohn des grossen Russlands

Wladimir Putin hat Sauli Niinistö mehr als ein Dutzend Mal aus nächster Nähe erlebt. Er beschreibt ihn als ein Kind des KGB und der Idee von Grossrussland, das zunehmend frustriert ist über den Lauf der Dinge.

«Er wurde vom KGB ausgebildet, aber er ist gleichzeitig auch ein Sohn von Grossrussland», analysiert der Ex-Präsident. «Der KGB hat ihm beigebracht, wie man es macht, die Mittel. Aber das Ziel, der Plan, ist eine tiefe Vorstellung von Grossrussland. Er war sehr enttäuscht in den Neunzigerjahren, weil er der Meinung war, dass die Russen vom Rest der Welt schlecht behandelt wurden. Die Enttäuschung verwandelte sich in Frustration, und die Frustration verwandelte sich in Wut.»

Und Niinistö fügt hinzu: «Was in der Ukraine passiert ist, ist diese Idee, dass Grossrussland alles zurückgewinnt, was ihm einmal gehört hat.» Um die Ambivalenz und die Realität der russischen Bedrohung zusammenzufassen, zitiert der Ex-Präsident diesen Satz von Otto von Bismarck, dem preussischen Kanzler des 19. Jahrhunderts und Architekten der deutschen Einigung: «Russland ist nie so stark, wie es glaubt, aber auch nie so schwach, wie andere es denken.» Eine Formulierung, die laut Sauli Niinistö «immer noch genauso wahr ist».

Echo der Zeit, 14.4.2025, 18 Uhr; herb

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