Marseille ist regelmässig Schauplatz von Morden in Zusammenhang mit Drogen. Dass nun ein Minderjähriger als Auftragskiller rekrutiert wurde, ist neu. Und «es ist schockierend», sagt Michel Gandilhon, Experte für Sicherheits- und Verteidigungsfragen am «Conservatoire National des Arts et Métiers» in Paris.
Gegenüber der RTS-Sendung «Tout un Monde» erklärt er, dass die Rekrutierung von Jugendlichen in Marseille seit mehreren Jahren relativ bekannt sei. Jedoch: «Diese Jugendlichen besetzten im Allgemeinen die niedrigsten Positionen, vor allem als Aufpasser».
Explodierender Drogenmarkt in Frankreich
In den letzten zwanzig Jahren hat sich der französische Drogenmarkt rasant entwickelt. Die Zahl der Kokainkonsumenten und -konsumentinnen hat sich innerhalb von sieben Jahren fast verdoppelt und stieg von 600'000 im Jahr 2017 auf eine Million im Jahr 2024. Dieser Anstieg gilt auch für synthetische Drogen.
Im vergangenen Mai warnte ein Bericht des französischen Senats vor einer Situation, die allmählich ausser Kontrolle gerät und die Stabilität der Institutionen des Landes bedroht.
Was Frankreich von anderen europäischen Ländern unterscheide, seien die kriminellen Enklaven in den Stadtvierteln, die von Drogenhändlern kontrolliert würden, erklärt der Experte.
Für die Anwohner ist dies ein demokratischer Skandal, denn es gibt Quartiere, in denen sie kein Recht auf Sicherheit und Ruhe haben.
Die Polizei sei nur selten präsent in diesen Vierteln, ausser wenn sie vereinzelt Razzien durchführe. Die Beamten seien dann oft schwer bewaffnet, «aber es ist extrem schwierig, täglich in diesen Gebieten zu intervenieren, da diese Viertel quasi wie Enklaven sind, die von bewaffneten Drogenhändlern kontrolliert werden», fügt Gandilhon hinzu. In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung wurden etwa 4000 grosse Drogenumschlagplätze in Frankreich ermittelt. «Für die Anwohner ist diese Situation eine Art demokratischer Skandal, denn es gibt Gebiete, in denen sie kein Recht auf Sicherheit und Seelenfrieden haben, weil sie unter der Fuchtel von Drogenhändlern leben», so der Experte.
Vierzig Jahre gescheiterte Politik
Der Sicherheits- und Verteidigungsexperte weist darauf hin, dass die Zahl der Opfer in Zusammenhang mit Drogenbandendelikten in Marseille auf ein Rekordniveau geklettert ist. So gab es in der südfranzösischen Stadt letztes Jahr 49 Tote und fast 123 Verletzte. Er weist auch darauf hin, dass sich die Bandengewalt inzwischen über die grossen Metropolen Frankreichs hinaus ausbreitet – auch auf kleinere Städte wie Grenoble, etwa 100 Kilometer von der Schweiz entfernt.
Michel Gandilhon glaubt, dass es für den Staat äusserst schwierig wird, die Kontrolle über die kriminellen Enklaven wiederzuerlangen. Dieses Phänomen, das vor etwa vierzig Jahren entstanden sei, habe sich aufgrund eines Versagens der Politik in Frankreich entwickelt. Seiner Ansicht nach ist die Drogenbekämpfung aufgrund der globalen Dimension sehr komplex. Es brauche ein wirksames Vorgehen an mehreren Fronten. So sei eine internationale Zusammenarbeit erforderlich, zudem brauche es im Land selbst verstärkte Polizeipräsenz. Einfach werde das jedoch nicht. Der französische Staat sei auf allen Ebenen überlastet, resümiert der Experte.