«Eines Nachts hat er mir im Schlafzimmer sein Kissen auf mein Gesicht gedrückt. Ich hatte wirklich Angst, zu ersticken», sagt Marianne (Name geändert). Die 74-Jährige erzählt ihre Geschichte, um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass häusliche Gewalt auch ältere Menschen betrifft. Nach ihrer Pensionierung als Lehrerin lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Zunächst verlief alles normal. Doch schon bald zeigten sich die ersten Anzeichen von Gewalt. «Es begann mit Beleidigungen. Dann fing er an, mich ohne Vorwarnung zu schlagen. Eines Tages warf er mir ein kochend heisses Tuch ins Gesicht. Ich stand unter seinem Einfluss, ich habe das alles nicht verstanden.»
Marianne ist isoliert. Darüber reden kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Weder ihre Kinder noch Verwandte wissen etwas. Jedoch schreibt sie alles in ein Notizbuch und macht auch Fotos von ihren blauen Flecken.
Wegen der Körperverletzung wurde ihr Ex-Mann bereits verurteilt. Nun muss er mit einer weiteren Strafe wegen Vergewaltigung rechnen. Als sie nach einem Armbruch aus dem Spital zurückkehrte, zwang er sie zum Geschlechtsverkehr. «Ich konnte nichts dagegen tun. In der Zeit nach meiner Operation passierte es ungefähr einmal pro Woche.»
Drei Siebzigjährige im letzten Jahr getötet
Allein letztes Jahr wurden bereits mindestens drei Frauen um die 70 von ihren Partnern oder Ehemännern umgebracht. Die Polizei in der Westschweiz gibt nur wenige Details bekannt. Meistens spricht sie von einem «Familiendrama» oder einem «Drama hinter verschlossenen Türen». Doch die Praxis ändert sich: Im vergangenen Juni veröffentlichte die Neuenburger Polizei zum ersten Mal ein Communiqué, in dem von einem «Femizid bei einem Rentnerpaar» die Rede war.
«Wenn eine ältere Frau im Schlaf tot aufgefunden wird, fragen wir nicht, ob es ihr Mann war, der sie mit einem Kissen erdrückt hat. Meistens gibt es keine Ermittlungen. Es gibt Fälle von Frauenmord, die unter dem Radar fliegen», erklärt Delphine Roulet Schwab gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS. Sie ist Professorin an der Haute Ecole de la Santé La Source und die einzige Wissenschaftlerin in der Schweiz, die dieses Tabuthema erforscht hat.
Jeden zweiten Tag ein Hilferuf
«Ältere Frauen zeigen Gewalt selten an. Häufig haben sie Angst davor, in ein Pflegeheim zu kommen. Auch sind sie oft abhängig von ihrem Partner und zögern, sich Hilfe zu holen», so die Forscherin weiter.
Dabei gibt es verschiedene Angebote, beispielsweise einen nationalen Notrufdienst. Allein im Kanton Waadt registriert der Verein, der sich um die Anrufe kümmert, rund 150 pro Jahr, das heisst alle zwei Tage einen Hilferuf. «Kürzlich erhielt ich einen Anruf von einer 80-jährigen Frau, die mir erzählte, dass ihr Mann sie geschlagen und in einem Zimmer eingesperrt habe. Ich sagte ihr, sie solle sofort 117 anrufen», sagt Jörg Rickenmann, Koordinator des Vereins Alter Ego.
Bei Marianne war es eine Chirurgin, die den Stein ins Rollen brachte. Nach einer Operation aufgrund der Schläge ihres Ex-Manns verstand die Ärztin die Situation und gab ihr die Nummern von Hilfsorganisationen. Marianne verliess schliesslich ihren Partner. Doch es wird wohl noch eine jahrelange Therapie brauchen, um das Erlebte zu verarbeiten.