Hätte der Tod des 29-jährigen Joao verhindert werden können? Der Portugiese wurde am 12. September 2020 ermordet. Für seine Eltern und seinen Bruder gibt es keinen Zweifel an dieser Frage. In ihren Augen würde Joao noch leben, wenn Juliette Noto ihre Arbeit besser gemacht hätte. Sie war damals Bundesanwältin und arbeitet mittlerweile für den Nachrichtendienst.
Am 4. November dieses Jahres stellte die Familie in einem Schreiben an das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) zivilrechtliche Ansprüche. Das zeigen Recherchen des Westschweizer Fernsehens (RTS).
Drei Monate vor der Tat stand der spätere Mörder von Joao unter Aufsicht der Bundesanwaltschaft. Er war gerade aus der Haft entlassen worden und musste 15 Auflagen einhalten – ansonsten drohte ihm die erneute Inhaftierung. In einer Anhörung drohte Noto sogar, dass er bei der «geringsten Abweichung» wieder inhaftiert werde.
Der Dschihadist war sich dessen bewusst – und verstiess trotzdem gegen die Auflagen. Er musste sich beispielsweise einmal pro Woche auf dem Polizeiposten in Morges melden, tat dies aber nicht. Die Staatsanwältin wusste von diesen Verstössen, verhängte jedoch keine Sanktionen gegen ihn. Wie es weiter ging, ist bekannt: Am 12. September 2020 betrat der Dschihadist am frühen Abend einen Dönerladen und erstach Joao.
«Joaos Tod wäre natürlich nicht eingetreten»
«Durch ihre völlig unverständliche Untätigkeit muss festgestellt werden, dass Frau Bundesanwältin Juliette Noto in der Ausübung ihres Amtes einen schweren Fehler begangen hat», schreibt der Anwalt Dario Barbosa im Namen der Opferfamilie in seinem Schreiben ans EFD.
«Joaos Tod wäre natürlich nicht eingetreten, wenn die angemessenen Massnahmen, die angesichts der Situation geboten waren, auch ergriffen worden wären», schreibt der Anwalt weiter.
Im Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit des Bundes und seiner Behördenmitglieder und Beamten heisst es in Artikel 6: «Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann die zuständige Behörde unter Würdigung der besonderen Umstände, sofern den Beamten ein Verschulden trifft, dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen.» Einfacher ausgedrückt: Der Bund muss für etwaige Verfehlungen der ehemaligen Bundesanwältin haften.
Fragen zum Stellenwechsel
Die Familie fordert eine Entschädigung von je 80'000 Franken für die Mutter und den Vater sowie 40'000 Franken für den Bruder. Die Angehörigen verlangen ausserdem Einsicht in die Personalakte von Juliette Noto, um «die Gründe ihres Stellenwechsels im Mai 2021 besser zu verstehen».
Noto selbst wurde von RTS per Mail kontaktiert. Sie gebe «keinen Kommentar» dazu ab, da dies ihrer Meinung nach «in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft» falle. Diese wiederum antwortete auf Anfrage von RTS: «Bei der Bekämpfung des dschihadistischen Terrorismus und der Bewältigung der entsprechenden Verfahren, wie etwa dem entsprechenden Anschlag in Morges, ist jedes Mal eine Vielzahl von Akteuren und Behörden involviert. Jede Behörde handelt im Rahmen ihres gesetzlich definierten Auftrags und trifft die dazu nötigen Entscheidungen.»
Die Causa liegt nun beim EFD, das in den nächsten Monaten einen Entscheid treffen wird.